Musikstück der Woche vom 19.09.2016

Amerikanisch? Böhmisch? Dvořákisch!

Stand
AUTOR/IN
Daniel Spiesecke
Doris Blaich

Antonín Dvořák: Streichquartett Nr. 12 F-Dur op. 96 „Amerikanisches“

Der Sommer ist vorbei – mit dem Musikstück der Woche verlängern wir ihn akustisch: Dvořáks „amerikanisches“ Quartett ist ein Sommerurlaubs-Stück, entstanden während der Ferien in einer tschechischen Einwanderer-Siedlung im amerikanischen Iowa. Das Pavel Haas Quartett spielte das Quartett am 14.05.2015 beim Internationalen Bodenseefestival.

Hoffnungsträger in Sachen ‚American way of music‘

„Würden Sie ab Oktober 1892 eine Anstellung als Direktor des New Yorker Nationalkonservatoriums annehmen? Und außerdem sechs Konzerte mit eigenen Werken dirigieren?“ Diese Anfrage erreichte Antonín Dvořák im Juni 1891 per Telegramm. Amerikas Musikwelt war auf der Suche nach einem eigenen, spezifisch amerikanischen Ton in der Musik und man erhoffte sich dafür durch Dvořák, den man als tschechischen National-Komponisten schätzte, wichtige Impulse. Nach langem Zögern unterschrieb Dvořák einen sehr lukrativen Vertrag und reiste für drei Jahre nach Amerika.

Sehnsucht nach Heimat – und nach Urlaub

Antonin Dvorak (Foto: picture-alliance / dpa, picture-alliance / dpa -)
Antonín Dvořák

Das New York der 1890er Jahre war für den Musiker und Komponisten aus Böhmen eine beeindruckende Erfahrung. Das wissen wir aus seinen Briefen und den Berichten der Zeitgenossen. Aber die Großstadt stresste ihn auch und er hatte fürchterliches Heimweh. Im Sommer 1893 wollte die Familie einen Heimaturlaub in Europa einlegen, entschied sich dann aber für eine Zeit im ländlichen Spillville, einer Siedlung tschechischer Einwanderer im amerikanischen Iowa. Einem Freund schrieb Dvořák: „Lehrer und Pfarrer werden tschechisch sein und so werde ich unter den Meinen sein. […] Welch ein Vergnügen wird das sein!“

Erwachen heiterer Gefühle bei der Ankunft auf dem amerikanischen Lande

Den Kompositionsunterricht und andere Aufgaben, die seine Stelle am Konservatorium mit sich brachten, konnte Dvořák in New York zurücklassen – von der Musik ließ er aber nicht ab: Zwei Kammermusikwerke entstanden im Sommerurlaub, das erste davon war das Streichquartett in F-Dur, das „amerikanische“. Ein schöner Titel, aber man sollte ihm mit etwas Vorsicht begegnen. Die musikalischen Spuren von Indianern oder Afroamerikanern sind eher allgemeiner Natur. Starke Pentatonik (also ein Tonvorrat, der ohne Halbtöne auskommt), Trommel- und Tanzrhythmen, die Dvořáks Tonsprache prägen, sind charakteristisch für verschiedenste Volksmusiktraditionen; also nicht unbedingt typisch amerikanisch, sondern ungefähr genauso typisch böhmisch oder einfach „dvořákisch“. Und sie sind auch nicht das unmittelbare Ergebnis akustischer Feldforschung.

Trotzdem erklärt der Umstand der Entstehung gut den Charakter und die Wirkung des Stücks. Naturverbunden und folkloristisch klingt es, und es spiegelt Dvořáks Freude über die idyllische Landschaft wieder – schon die Tonart F-Dur zeigt es an (die klassische Tonart für Pastoralen, Naturidyllen und heile Welt). Das Cello liegt zu Beginn auf dem F, die Violinen tremolieren wie ein Naturlaut flirrend zwischen Terz, Quinte und Oktave und die Bratsche legt sich mit der beherzt synkopierten Melodie in den vollen F-Dur-Dreiklang hinein. Im dritten Satz taucht ein stilisierter Vogelruf auf, dessen Original Dvořák bei einem seiner Spaziergänge notiert hat (neueren Forschungen zufolge soll es sich um den Gesang der scharlachroten Meise handeln). An den Freund Josef Foerster schrieb Dvořák :„Als ich dieses Quartett im Jahre 1983 in der tschechischen Ortschaft Spillville (1200 Meilen von New York entfernt) schrieb, wollte ich einmal etwas ganz Melodisches und Einfaches niederschreiben, und immerfort hatte ich Väterchen Haydn vor Augen und deshalb ist es im Geist so einheitlich ausgefallen.“

Schlicht, aber ausdrucksstark

Für die musikalische Architektur greift Dvořák die traditionelle Sonatenhauptsatzform auf; im Vergleich zu den späteren Quartetten macht er also keine Experimente mit der musikalischen Anlage. Im Gegenteil: Das Quartett nutzt einfache musikalische Mittel und ist auch für die vier Musiker technisch nicht allzu kompliziert zu spielen. Dennoch wäre es falsch, das Quartett als Gelegenheitskomposition abzutun. Es sollte nicht die Grenzen der Gattung erweitern oder Musikkritikern gefallen, sondern eine vergnügliche Hausmusik sein. Seine Qualität liegt im Reichtum der Klangfarben und in der schier unerschöpflichen Erfindungskraft der Melodien, die das ganze Spektrum abdecken: von hemdsärmeliger Erdverbundenheit bis zum filigran Zerbrechlichen. Bei der Uraufführung spielte Dvořák – der eigentlich Bratscher war – übrigens selbst die erste Geige.

Pavel Haas Quartet

Das Quartett hat sich nach dem tschechischen Komponisten Pavel Haas benannt, der nach dreijähriger Gefangenschaft im Konzentrationslager Theresienstadt 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Im Gedenken an ihn formierte sich das Pavel Haas Quartet im Jahr 2002. Derzeit besteht es aus Veronika Jarůšková und Marek Zwiebel (Violinen), Radim Sedmidubský (Viola; in unserem Mitschnitt spielt noch sein Vorgänger Pavel Nikl) und Peter Jarůšek (Violoncello). In Prag ansässig, wurde Milan Škampa ihr Mentor, der Bratschist des berühmten Smetana-Quartett.

Nach dem Gewinn des Premio Paolo Borciani 2005 folgten spätestens mit der Nominierung als ECHO Rising Stars 2007 zahlreiche Konzerte des Pavel Haas Quartet auf den wichtigsten Bühnen der Welt. Dazu zählen die Tonhalle Zürich, der Münchner Herkulessaal, die Wigmore Hall, das Councertgebouw Amsterdam und die Philharmonie Luxembourg sowie Auftritte bei den Festivals in Aldeburgh, Edinburgh, Verbier, Zeist und beim Prager Frühling. Außerdem gewann das Ensemble neben dem Diapason d’or (2010) allein fünf Mal den Gramophone Award für verschiedene Aufnahmen beim Label Supraphon. Zuletzt entstand ein Album mit Bedřich Smetanas Streichquartetten, das mit dem BBC Music Magazine Award ausgezeichnet wurde.

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Daniel Spiesecke
Doris Blaich