Musikstück der Woche vom 16.9.2013

Multitasking für Klavier

Stand
AUTOR/IN
Doris Blaich
Bernhard Schrammeck

Sergej Prokofjews 6. Klaviersonate mit Boris Giltburg

Musik, in der Krieg und Wut ihre Spuren hinterlassen haben - aber auch die Sehnsucht nach dem Frieden. Boris Giltburg spielt die 6. Klaviersonate des russischen Komponisten Sergej Prokofjew. Ein Live-Mitschnitt vom Januar 2011 aus dem Frankfurter Hof in Mainz.

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Drei große Klaviersonaten auf einen Streich

Multitasking – sich mehreren Dingen gleichzeitig zu widmen – schadet der Konzentration und der Kreativität, so liest und hört man immer wieder. Prokofjew indessen liefert den Gegenbeweis: für ihn war es völlig normal und sogar inspirierend, gleichzeitig an mehreren Werken zu arbeiten. 1939 skizzierte er auf einen Streich drei große Klaviersonaten – Nr. 6, 7 und 8 – mit insgesamt zehn Sätzen. Prokofjews Frau erinnert sich, dass er "jedes Mal, wenn er in einem Satz auf ein Problem stieß, einfach zum nächsten Satz überging, ohne Zeit zu vergeuden." Als "Kriegssonaten" wird dieser Sonatendrilling oft bezeichnet. Stilistisch ähneln sich die drei stark: mit ihren oftmals schroffen Themen, ihren unnachgiebigen Rhythmen und ihren – gerade im Vergleich mit Prokofjews anderen Sonaten – groß dimensionierten Strukturen.

Neue Ausdrucksformen
Dieser neue Sonatenausdruck Prokofjews offenbart sich gleich im Eingangssatz der Sonate Nr. 6 (Prokofjew hat sie 1940 vollendet): da hört man krasse, schreiende Dissonanzen und extreme Instrumentaleffekte wie Glissandospiel und Cluster (zu kompakten Klangtrauben geballte Klänge). Das marschartige Hauptthema des Satzes wirkt in seiner heftigen Ausdruckskraft wie eine Mahnung an eine nahende Bedrohung. Das darauffolgende Allegretto gewährt dem Zuhörer eine kurze Entspannung: hier klingen sangliche Melodien an, auch einige Jazz-Harmonien. Auf dem Höhepunkt des dritten Satzes wird die Idylle eines langsamen Walzers jäh durch einen dramatischen Ausbruch zerstört, bevor das düstere Finale mit der Wiederholung des Marschmotivs aus dem ersten Satz eine eher beklemmende Stimmung vermittelt.

Der Pianist Emil Gilels erinnerte sich an den Eindruck, den eine private Voraufführung der sechsten Sonate bei ihm hinterließ, am Klavier saß Prokofjew selbst: „Niemals hatte ich etwas dergleichen gehört. Mit barbarischer Kühnheit bricht der Komponist mit den Idealen der Romantik und bringt in seine Musik den alles überströmenden Pulsschlag des 20. Jahrhunderts hinein.“

Boris Giltburg, Klavier
Der junge israelische Pianist Boris Giltburg hat es in den letzten Jahren geschafft, weltweit und kontinuierlich die Aufmerksamkeit eines immer weiter wachsenden Publikums auf sich zu ziehen, da er wie wenige andere der jungen Pianisten-Generation über das Maß an Musikalität, Persönlichkeit und Durchdringung der Musik verfügt, das ihn von der bloßen technischen Perfektion abhebt. Boris Giltburg wurde 1984 in Moskau geboren. Mit fünf Jahren erhielt er ersten Klavierunterricht bei seiner Mutter. Von Kindheit an lebt er in Tel Aviv, wo er seitdem bei Arie Vardi studiert.

Mehrfach ausgezeichnet

Boris Giltburg wurde bei internationalen Wettbewerben mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, namentlich in Santander, wo er 2002 für seine Interpretation von Bartóks drittem Klavierkonzert mit dem London Symphony Orchestra unter Rafael Frühbeck de Burgos den ersten Preis sowie den Premio de público Sony gewann. Beim Arthur Rubinstein Klavierwettbewerb 2011 in Tel Aviv belegte er den zweiten Platz und erhielt den Sonderpreis für die beste Interpretation eines klassischen Konzerts mit Beethovens zweitem Klavierkonzert. Im Juni 2013 gewann er den renommierten Wettbewerb Reine Elisabeth in Brüssel.

Der "American Record Guide" bescheinigte Giltburg 2007: "… ruhige und überzeugte Aufmerksamkeit hat er für die Musik parat. Die Ergebnisse sind etwas Besonderes. Giltburg spielt wie der junge Richter." Boris Giltburg konzertiert auf den wichtigsten Bühnen Europas.

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Doris Blaich
Bernhard Schrammeck