Essay über Felix Mendelssohn Bartholdy

Der die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaute

Stand
AUTOR/IN
Christian Möller

Buchkritik vom 15.2.2018

Die Stoßrichtung des Buches macht schon der Titel klar: Als „Mozart des 19. Jahrhunderts“ hat Robert Schumann seinen Freund Mendelssohn bezeichnet. Das wird ständig zitiert. Die zweite Hälfte seines Ausspruchs aber wird fast immer unterschlagen. „Er ist der Mozart des 19. Jahrhunderts ...,

Es ist diese zweite Hälfte des Satzes, die Peter Gülkes Blickrichtung bestimmt. Sein Buch ist keine Biografie und auch keine säuberlich sortierte Werkeinführung. Sondern ein auf gut 120 Seiten konzentrierter Essay, der Betrachtungen zu Leben und Werk miteinander verknüpft, um dem nachzuspüren, was Gülke „das Rumoren unter der Oberfläche nennt“. In einem typischen Gülke-Satz:

Um das Überhörte hörbar zu machen, zieht uns Gülke immer wieder unvermittelt in die Detailanalyse einzelner Werke hinein, die er dann teilweise im Licht zeithistorischer Entwicklungen interpretiert. Zum Beispiel beim Klaviertrio in c-Moll op. 66:

Da ist es wieder, das Rumoren. Gülke deutet die thematische Konstellation als Reflex dessen, was Goethe das „veloziferische“ Element der Zeit genannt hat.

Was hier fast ein bisschen klingt wie die heutige Klage über die Schnelllebigkeit des digitalen Zeitalters, schrieb Goethe in einem Brief an Mendelssohns Lehrer Carl Friedrich Zelter 1825. Gülke nimmt es als treffenden Beleg für eine nervöse Grundstimmung des frühen 19. Jahrhunderts, die auch in Mendelssohns Komponieren unweigerlich einsickert. Wer seine Werke vor diesem Hintergrund hört, erkennt, wie viel sie uns auch heute noch sagen können. Das ist nicht das geringste Verdienst dieses Buches.

Solch eingehenden Detailbetrachtungen einzelner Werke – ob nun des Klaviertrios c-Moll, der „Hebriden“-Ouvertüre, der „Lieder ohne Worte“ oder der beiden Oratorien „Paulus“ und „Elias“ – stellt Gülke ein Nachdenken über einzelne Lebensaspekte an die Seite. Auch hier schert er sich nicht um eine vollständige Darstellung, sondern widmet sich umso eindringlicher einzelnen Problemen, neuralgischen Punkten, wie etwa dem der jüdischen Herkunft einer Familie, die innerhalb kürzester Zeit gesellschaftlich aufgestiegen war.

Es ist ein schmaler, aber gewichtiger Band, den Peter Gülke hier vorgelegt hat, überquellend vor Erkenntnissen, denen der er mit einer jugendfrischen Neugier nachspürt, wie sie in der heutigen Musikpublizistik wenige so besitzen wie dieser über 80-Jährige. Ganz leicht zu haben ist das alles für den Leser nicht. Gülke schreibt eine Prosa, die ungemein elegant ist, aber auch von hoher Gedrängtheit und Dichte. Manche seiner Sätze muss man schon mehrmals lesen, um sie zu verstehen. Für ein Buch, das gegen das Klischee eines vermeintlich oberflächlichen Komponisten anschreibt, ist das aber nicht das Schlechteste.

Buchkritik vom 15.2.2018 aus der Sendung „SWR2 Cluster“

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AUTOR/IN
Christian Möller