Portrait der Klavierdynastie Bechstein

Allzu beschaulich

Stand
AUTOR/IN
Michael Horst

Buchkritik 2.11.2016

Wer heutzutage in einen Klavierabend geht, der wird in 90 Prozent aller Fälle einen Steinway-Flügel vorfinden, den Solistin oder Solist auf bestmögliche Weise zum Klingen zu bringen versuchen. Das war nicht immer so. Vor 100 Jahren galt ein „Bechstein“ als der große Favorit bei den damaligen großen Pianisten, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und sogar in Übersee: von gleichmäßig schönem Klang, dabei strapazierfähig auch bei virtuosesten Kraftakten. Den ersten Dämpfer erhielt das Unternehmen nach dem Ersten Weltkrieg, der Zweite Weltkrieg hätte ihm fast den Todesstoß versetzt. Inzwischen jedoch blickt die Firma Bechstein auf gut 160 bewegte Jahre zurück, über die Gunna Wendt jetzt ein Buch geschrieben hat.

Wir schreiben die 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Die noch junge Schallplattenindustrie verzeichnet eine Erfolgsgeschichte sondergleichen – nicht zuletzt durch die fortgesetzten Verbesserungen der Aufnahmetechnik. Die Künstler drängeln sich vor den Mikrofonen, auch der junge und sensationell begabte Walter Gieseking ist dabei. 1925 nimmt er in Berlin Edvard Griegs „Hochzeitstag auf Troldhaugen“ auf. Natürlich auf einem Bechstein-Flügel. Denn Bechstein gilt in jener Zeit als der Mercedes unter den Klavieren, ein Instrument, bei dem sich eine enorme Vielfalt von Klangfarben mit Klangfülle, hervorragender Anschlagtechnik und großer Robustheit paaren. Neben Gieseking sind es Klaviergrößen wie Ferruccio Busoni, Artur Schnabel, Wilhelm Backhaus oder Emil von Sauer, die einstimmige Lobeshymnen auf Bechstein singen – und am liebsten auf ihm spielen.

Diesem Mythos Bechstein geht Gunna Wendt nach: Sie verfolgt die Familien- und Firmengeschichte von der Gründung 1853 bis zur Gegenwart verfolgt. Um 1850 boomte die Gründung von Klavierbaufirmen, doch Carl Bechstein war der erfolgreichste von ihnen. Warum, das wird schnell deutlich: Er war Traditionalist mit einem Faible für Innovationen, und er verband das Können des Handwerkers mit der Gabe der Kommunikation – vor allem mit großen Pianisten wie etwa Franz Liszt oder dessen Schwiegersohn Hans von Bülow.

Akribisch zeichnet die Autorin den kometenhaften Aufstieg der Firma Bechstein im 19. Jahrhundert nach. 1885 werden Filialen in London und St. Petersburg eröffnet, 1892 entsteht ein „Bechstein-Saal“ für Kammermusik mitten in Berlin. Nur neun Jahre später setzt die Firma mit der Bechstein Hall in London ein weiteres Ausrufe-Zeichen; die Bechstein Hall, die im Ersten Weltkrieg in Wigmore Hall umbenannt wird, ist bis heute die erste Adresse für Liederabende und Kammermusik in der britischen Hauptstadt.

Carl Bechstein wusste genau, wo er seine meisten Käufer fand: bei der „verehrten Damenwelt“, die selbst auf dem Klavier dilettierte, vor allem aber die wohnliche Einrichtung des Heimes im Auge hatte. Ein Klavier gehörte hier selbstverständlich dazu! So trägt das musikliebende Bürgertum die Bechsteins von Rekord zu Rekord; doch der Erste Weltkrieg mit den nachfolgenden wirtschaftlichen Turbulenzen bedeutet einen massiven Einschnitt. Immerhin: Die Pianisten halten der Firma die Treue. Und als Artur Schnabel in den 1930er Jahren alle Beethoven-Sonaten aufnimmt, spielt er sie selbstverständlich auf einem Bechstein.

So spannend diese Firmengeschichte, so zwiespältig dagegen Gunna Wendts Buch: Da finden sich vermeintliche Fakten – wie die angebliche Hochzeit Franz Liszts mit seiner Geliebten, der Gräfin d’Agoult. Da sind merkwürdige Fehleinschätzungen, vor allem auf musikalischem Gebiet – wie die Behauptung, das Klavier habe bis 1850 hauptsächlich als Begleitinstrument für romantische Lieder gedient. Allzu viel Biografisches wird in dröger Lexikon-Manier abgehandelt; bisweilen paraphrasiert der Text auch nur die Website der Firma Bechstein oder auch Wikipedia.

Am ärgerlichsten ist allerdings der Umgang der Autorin mit dem Enfant terrible der Familie, jener Helene Bechstein, der Schwiegertochter des Firmengründers; sie hat Adolf Hitler in Berlin wie in München und Bayreuth salonfähig gemacht und wurde schon 1924 zu seiner eifrigsten Besucherin während dessen Festungshaft im bayerischen Landsberg. Ausufernd und im Plauderton werden diese Besuche und die Fülle an Geschenken geschildert, hinzu kommt Anekdotisches, das ein ehemaliger Bediensteter aus seiner Jugendzeit im Münchner Hotel Vier Jahreszeiten zum Besten gibt.

Das Auf und Ab in der Nachkriegszeit und der beschwerliche Weg der gänzlich neu aufgestellten Firma Bechstein in den letzten beiden Jahrzehnten werden dagegen allzu summarisch und oberflächlich abgehandelt. Zwar haben einige Pop-Größen wie Freddie Mercury oder Elton John gelegentlich zum Bechstein gegriffen, doch die Konkurrenz von Steinway & Sons scheint nach wie vor übermächtig zu sein. Immerhin bekennen sich mehrere jüngere Pianisten wie Kit Armstrong und Denys Proshayev explizit zu Bechstein. Doch ob das reicht, das bleibt bei Gunna Wendt ebenfalls im Ungefähren wie so Vieles in dieser allzu beschaulich und ohne klare Linie dahin schlingernden Familiengeschichte der Klavierdynastie Bechstein.

Buchkritik vom 2.11.2016 aus der Sendung „SWR2 Cluster“

Stand
AUTOR/IN
Michael Horst