Die Gesellschaften in den liberalen Demokratien sind gespalten wie nie zuvor: in Arm und Reich, Anywheres und Somewheres, Stadt und Land. Das Vertrauen in die demokratischen Institutionen schwindet. Die Folge sind der weltweit wachsende Einfluß antidemokratischer Parteien, Bewegungen und populistische Revolten, wie der Sturm auf das Kapitol durch einen von Trump aufgestachelten Mob.
Seine [Trumps] Wahl war ein Symptom brüchig gewordener sozialer Bindungen und einer beschädigten demokratischen Ordnung. In den 1990er Jahren nahm die Unzufriedenheit eine Form diffuser Ängste an – es verstärkte sich das Gefühl, dass wir die Kontrolle über die Kräfte verlieren, die unser Leben lenken, und dass das moralische Geflecht von Gemeinschaft sich aufzulösen beginnt.
Das schreibt der amerikanische Philosoph Michael J. Sandel im Vorwort zur Neuausgabe seines Standardwerks „Das Unbehagen in der Demokratie“. Sandel gilt als einer der Hauptvertreter des Kommunitarismus, der in den 1970er Jahren als Kritik am Neoliberalismus und dessen ‚„radikalem Individualismus der Selbstverwirklichung“ entstand.
Der Liberalismus hebt individuelle Rechte und Toleranz hervor. Im Zentrum der republikanischen Theorie steht die Idee, dass Freiheit davon abhängt, an Selbstbestimmung teilzuhaben. Das erfordert Kenntnisse über öffentliche Angelegenheiten (…), ein Gefühl der Zugehörigkeit, Sorge für das Ganze, eine moralische Verbindung mit der Gemeinschaft.
Zwei sehr gegensätzliche philosophische Ansätze mit erheblichen Folgen für die Vorstellungen vom Sinn und Zweck von Wirtschaft. Für die Liberalen liegt der Zweck nach Sandel in nichts als Produktion und Konsum. Für die republikanische Gesinnung darin, Freiheit und Wohlstand für alle zu schaffen; sie soll eine öffentliche Angelegenheit freier, selbstbestimmter Bürger sein, dem Gemeinwohl dienen. Was zu Beginn des Buches oft noch abstrakt und theoretisch klingt, wird konkret und anschaulich in der Analyse der unterschiedlichen historischen Phasen, wie der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg:
Als die keynesianische Fiskalpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg an Bedeutung gewann, verschwand der zivilgesellschaftliche Strang der ökonomischen Debatte aus dem politischen Diskurs Amerikas. Die Wirtschaftspolitik kümmerte sich mehr um Größe und Verteilung des Nationalprodukts und weniger um die Voraussetzungen der Selbstverwaltung.
Hellsichtig erkennt der Autor schon in den Jahren nach 1945 den Anfang vom Ende des „amerikanischen Jahrhunderts“. In dem Maße, in dem Wirtschaft nur noch Konsum, Wachstum, den „entfesselten Fluss von Waren und Kapital“ meint, so Sandels Kernaussage, verliert sie ihre Gemeinwohlorientierung, ihre Selbstbstimmung. Im globalisierten Finanzmarktkapitalismus tritt an die Stelle des Primats der Politik, das Primat der Wirtschaft, werden Politiker zunehmend zu „Geiseln der Wallstreet“: Am Ende des Vorworts zur Neuausgabe formuliert der Autor die politische Intention seines Buches:
Um die amerikanische Demokratie wieder aufleben zu lassen, müssen wir zwei Fragen erörtern. Wie können wir die Wirtschaft so reformieren, dass sie demokratischer Kontrolle zugänglich wird? Und wie können wir unser gesellschaftliches Leben wieder so aufbauen, dass die Polarisierung abgeschwächt wird und die Amerikaner befähigt werden, zu effektiven demokratischen Bürger zu werden?
Mit seinem aktualisierten Standardwerk hat der Sozialphilosoph und Kommunitarist Michael J. Sandel akribisch die Erosion von Gemeinwohl und Zivilgesellschaft in der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte nachgezeichnet – ein Schlüsseltext für das Verständnis der Entfremdung der Menschen von der Demokratie in liberalen kapitalistischen Gesellschaften.