SWR2 lesenswert Kritik

Kerstin Preiwuß – Heute ist mitten in der Nacht

Stand
AUTOR/IN
Jörg Magenau

Was ist Angst? Was macht sie mit uns? Kerstin Preiwuß erzählt von Unglücksfällen, von Verlusten und vom Tod. Aber auch vom Alltag einer Mutter und Schriftstellerin. Sie zeigt, wie Ängste sich bewahrheiten, vor allem dann, wenn es nicht mehr ums Private geht, sondern um den Weltzustand in Zeiten der Coronapandemie und des Ukrainekrieges.

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Die 1980 geborene Kerstin Preiwuß wurde als Autorin von Prosa und Gedichten mehrfach ausgezeichnet, ihr Lyrikband "Taupunkt" schaffte vor zweieinhalb Jahren den Sprung auf die SWR Bestenliste. Und ihr neues Buch, eine Sammlung von Essays, steht auf Platz zwei der aktuellen Liste: "Heute ist mitten in der Nacht" – Jörg Magenau.

Die Mitte der Nacht ist der Augenblick des Umschlags. Auch wenn es dunkel ist, geht es ab jetzt dem nächsten Morgen entgegen. Die Hoffnung, die darin liegen könnte, ist bei Kerstin Preiwuß aufgehoben. „Heute ist mitten in der Nacht“ heißt ihr Essay über die Angst und eine Gegenwart zwischen Coronapandemie und Ukrainekrieg. Der Klimawandel spielt dabei seltsamerweise keine Rolle. „Heute ist mitten in der Nacht“ klingt nach ewiger Gegenwart, als wäre das Morgen und damit ein neuer Tag vorerst nicht zu erwarten. „Ab jetzt ist, wie es vorher war, vorbei“, lautet einer der Sätze, die den Kriegsbeginn markieren. „Zeitenwende“ hat Kanzler Olaf Scholz das genannt und damit das Wort des Jahres 2022 geprägt.

Kerstin Preiwuß setzt früher ein. Sie beginnt im Privaten, mit all den Ängsten und Befürchtungen, die sich manchmal tatsächlich realisieren. So erinnert sie sich an den Tod eines Cousins, der an einem Hirntumor starb. An den Moment, als die Gynäkologin ihr mitteilte, dass sie beim Baby in ihrem Bauch keinen Herzschlag mehr erkennen könne. An den Hirntod des Stiefvaters nach einem Fahrradunfall. Doch so schrecklich das war, ist es danach nur noch Erinnerung oder, als Aufgeschriebenes, ein Text.

Ich habe an Stelle von Befürchtungen das Wissen, dass etwas tatsächlich eintritt, dass aus einer Befürchtung durchaus ein Unglück wird. Doch sofort zerfällt mir das Erlebte wieder in der Erinnerung, wie es immer schon am Zerfallen ist. Bevor etwas eintritt, ist es kaum vorstellbar, danach schon nicht mehr. Ein Riss in der Zeit, eine Lücke, ein Spalt, den man immer nur überbrückt.

Es sind diese Zwischenzustände, für die Kerstin Preiwuß sich interessiert. Ihrem letzten Gedichtband gab der „Taupunkt“ den Titel, also der physikalische Gleichgewichtszustand der Luft zwischen Kondensieren und Verdunsten. Dieses Gleichgewicht ist nun verlorengegangen. Und wenn das Schreiben einst die einzige wirksame Strategie gegen die Angst gewesen ist, wirkt es in Kriegszeiten nicht mehr. Schreiben bedeutet jetzt, sich in der Rolle der Zuschauerin und in den Routinen des eigenen Lebens einzurichten. Der Alltag ist nicht länger unschuldig, und auch das Schreiben ist es nicht.

Andererseits berichtet Kerstin Preiwuß davon, dass ihr Alltag als Schriftstellerin auch schon zuvor ein Kampfplatz gewesen ist. Ungefähr in der Mitte des Buches spricht sie über ihre Aufgaben als Mutter und die mühsamen Versuche, das eigene Denken und Schreiben im Alltag mit Kindern zu verteidigen. Das gelingt nur zum Preis der Ernüchterung.

Ich habe Dinge zu Ende gebracht, Bücher zu Ende geschrieben, die mir davor ins Fragment entglitten waren. Sie quasi auf den Boden der Tatsachen geholt, weil die Kinder mich dort ebenfalls halten. Keine Metaphysik, die Welt hängt in Tatsachen zusammen.

Dieser Kampf um Kontinuität lässt sich an „Heute ist mitten in der Nacht“ ablesen: Das Buch zerfällt in viele kleine Teile, von denen einige Stücke auch schon in verschiedenen Zeitschriften erschienen sind. Es ist eine Montage aus disparaten Momenten, von denen die kurzen erzählerischen Passagen die gelungensten sind.

Preiwuß umkreist Angst als ein Lebensgefühl, das alles grundiert und sich lediglich an unterschiedliche Gegenstände heftet. Aus dem Privaten kommend, wächst die Angst mit Pandemie und Krieg über sich hinaus. Es könnte sein, dass die Angst auch da nur einen neuen Gegenstand gefunden hat. Insofern schreibt Preiwuß nicht über Angst, sondern mit ihr und aus ihr heraus. Ihr Essay ist keine phänomenologische Studie, die danach fragt, was Angst eigentlich ist, sondern eine Schilderung des Lebens mit verschiedenen Ängsten.

Dazu gehört auch die Angst davor, dass die Katastrophe zu etwas Geläufigem wird, die Angst vor Anpassung und Gewöhnung. Preiwuß‘ Essayband ist ein seltsam diffuser, nicht besonders griffiger Text, der aber gerade deshalb ungemein gegenwärtig wirkt. Er bietet keine Lösungen, sondern beschreibt ein allgemeines Zeitgefühl. Das hält ungefähr die Mitte zwischen Klugheit und Banalität, Beruhigung und Erschütterung. Die „Mitte der Nacht“ pendelt zwischen Ratlosigkeit und Reflexivität, Sensibilität und Selbstbezüglichkeit.

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Insa Wilke stellt "Heute ist mitten in der Nacht" von Kerstin Preiwuß vor. Der Text ist eine essayistische Verhandlung mit der Angst - und erschreckend aktuell, urteilt die Runde.

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Ein ungemein gegenwärtiges Buch, in dem eine Erzählerin mit einer dünnen Membran gegenüber der Außenwelt die Gefühle unserer Zeit beschreibt. Preiwuß übersteigt das eigene Unglück, indem sie es verallgemeinert.

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Jörg Magenau