Buchkritik

Annie Ernaux – Das Ereignis

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Frankreich im Oktober 1963: Alles deutet darauf hin, dass die junge Literaturstudentin Annie schwanger ist. Ihre Periode bleibt aus, sie leidet unter Magenverstimmungen. Ein Gynäkologe bestätigt den Verdacht, und doch verdrängt die Ich-Erzählerin die Realität.

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Die Schwangerschaftsbescheinigung zerreißt sie kurzerhand und auch emotional findet Annie keinen Zugang zu ihrer Schwangerschaft: Sie spürt zwar, dass da etwas ist, nicht aber, dass es tatsächlich ein Kind ist, das in ihrem Bauch heranwächst.

Die junge Frau ist auf sich allein gestellt und überfordert

Abtreibungen waren damals noch gesetzlich verboten und gesellschaftlich tabuisiert: Annie kann sich niemandem anvertrauen und wo sie doch Hilfe sucht, wird sie abgewiesen. Ärzte schicken sie fort, Freunde schweigen oder wenden sich ab. In Romanen und Filmen ist die Abtreibung eine Ellipse, eine Leerstelle zwischen Schwangerschaft und Nicht-Schwangerschaft, denkt Annie. Überfordert und auf sich allein gestellt versucht Annie selbst abzutreiben.

„Am nächsten Morgen legte ich mich aufs Bett und schob mir vorsichtig eine Stricknadel in die Scheide. Ich tastete mich vor, fand aber den Gebärmutterhals nicht, und sobald es wehtat, schreckte ich zurück. Ich begriff, dass ich es alleine nicht schaffen würde.“

So sucht sie weiter nach einer Perspektive und gerät schließlich an die ehemalige Hilfskrankenschwester Madame P.-R. Sie führt Annie eine Sonde in ein, die eine Fehlgeburt auslösen soll. Der erste Eingriff ist erfolglos, sie versuchen es mit einer anderen Sonde. Zwei Wochen später wird die Fehlgeburt ausgelöst. Annies Freundin O. ist dabei, doch die jungen Frauen sind nicht im Geringsten auf das vorbereitet, was sie erwartet: Schmerzen, Blut, ein winziger Fötus an einer Nabelschnur baumelnd, geboren in die Toilette.

„Ich war also tatsächlich imstande gewesen, so etwas zu produzieren. O. setzt sich auf den Hocker, sie weint. […] Wir wissen nicht, was wir mit dem Fötus anfangen sollen. O. läuft in ihr Zimmer und holt eine leere Zwiebacktüte, ich lege ihn hinein. Ich gehe damit zur Toilette. Er liegt in der Tüte wie ein Stein. Ich leere die Tüte über der Kloschüssel aus. Ich betätige die Spülung.“

Es entspricht dem typischen Stil Ernaux‘, auf unpersönliche Weise von persönlichen Erfahrungen zu erzählen. Ihre intimen Erzählungen koppelt sie oft an politische und gesellschaftliche Analysen: In Werken wie „Erinnerung eines Mädchens“ oder „Die Scham“ erzählt sie von Gefühlen der eigenen Unwürdigkeit und verletzenden sexuellen Begegnungen.

Zugleich greift sie politische Momente wie die Emanzipationsbewegung der Frauen auf. Die Protagonistinnen begreift Ernaux dabei als Repräsentantinnen einer bestimmten Zeit oder eines bestimmten Milieus. Auch in „Das Ereignis“ beobachtet die Erzählerin aufmerksam ihre Mitmenschen und legt Machtstrukturen und Handlungsmotive offen. Aus der autobiografischen Erzählung wird eine Art kollektiver Biografie der französischen Gesellschaft.

Annie Ernaux versteht sich als „Ethnologin ihrer selbst“

Annie Ernaux wurde als Kind zweier Fabrikarbeiter geboren, studierte, arbeitete als Lehrerin und zählt heute zu den bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen. Ihre Bücher erzählen meist von persönlichen Erlebnissen oder der Biografie der Eltern. Sie schreibe, so Ernaux, als „Ethnologin ihrer selbst“.

Eine ethnologische, oftmals auch soziologische, Denkweise durchzieht auch dieses Werk. Es werden Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern oder den Klassen thematisiert: Die Erzählerin berichtet von der Macht der Ärzte über ohnmächtige Frauen und beschreibt die unverheirateten Schwangeren als Symbol der Unterschicht.

Distanzierte Genauigkeit ersetzt die Empathie

Und doch schreibt Annie Ernaux auch als Betroffene von einer sehr persönlichen traumatisierenden Erfahrung. Beim Versuch, die neutrale Beobachterin zu geben, spart sie Emotionen und Gefühle oft aus: Beinahe mechanisch berichtet die Erzählerin von den Veränderungen, die sie während der Schwangerschaft an sich selbst beobachtet.

Die fehlende Emotionalität macht es einem manchmal schwer, Empathie zu entwickeln. Besonders dann, wenn die erzählte Situation der Leserin oder dem Leser womöglich völlig fremd ist. Doch erzählt Annie Ernaux nicht zufällig so genau und auch so kühl.

„Etwas erlebt zu haben, egal, was es ist, verleiht einem das unveräußerliche Recht, darüber zu schreiben. Es gibt keine minderwertige Wahrheit. Wenn ich diese Erfahrung nicht im Detail erzähle, trage ich dazu bei, die Lebenswirklichkeit von Frauen zu verschleiern, und mache mich zur Komplizin der männlichen Herrschaft über die Welt.“

Als das Buch 2000 in Frankreich erschien, waren Abtreibungen dort längst erlaubt. Feministinnen hatten viele Rechte und Freiheiten erkämpft, doch zugleich wuchsen antifeministische Strömungen. Auch machte sich eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber Themen wie Gewalt gegen Frauen, deren gesellschaftliche und politische Teilhabe sowie Gleichstellungsfragen breit. Man ruhte sich darauf aus, dass Frauen theoretisch alle Möglichkeiten offen stünden: Jede sei nun selbst dafür verantwortlich, diese Freiheiten auch zu nutzen.

Strukturelle Faktoren, wie wirtschaftliche Abhängigkeit oder veraltete Rollenbilder, wurden und werden bei dieser Argumentation nicht berücksichtigt. Ernaux‘ Werk bricht mit dieser Ignoranz und verweist auf Probleme, zu denen sonst geschwiegen wird und die damit aus dem Fokus geraten.

Trotz der Legalisierung finden viele betroffene Frauen auch heute zu wenig Unterstützung

Denn trotz der politischen Debatten um die Legalität von Schwangerschaftsabbrüchen bleibt noch immer vieles im Verborgenen. Besonders zu den psychischen Folgen der Betroffenen wird oft geschwiegen. Für viele Frauen ist es zudem auch heute noch schwierig, einen Arzt oder eine Ärztin zu finden, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführt – religiöse und persönliche Überzeugungen stehen solchen Eingriffen oft im Weg. Deshalb bleibt Ernaux‘ Erzählung aktuell und wichtig.

Auch wenn sich manches nicht in Worte fassen lässt: Annies Gedanken und Gefühle legen schonungslos offen, welches Leid und welche Ängste Betroffene durchleben müssen.

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SWR