Holocaust-Gedenken

Michel Friedman fordert neue Erinnerungskultur: „Deutschland war lange ein Schweigeland“

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INTERVIEW
Martin Gramlich

In einer Zeit, in der immer mehr Zeitzeugen des Holocausts sterben, wirbt der Publizist Michel Friedman, selbst Kind von Shoa-Überlebenden, für ein neues Erinnern an das Grauen der NS-Zeit. Denn Deutschland sei „zu lange ein Schweigeland gewesen“, sagt Friedman im SWR2 Gespräch.

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Was hätte eine kommunikative Erinnerungskultur bedeutet?

Um die Erinnerungskultur in Deutschland wären seit Jahrzehnten viele Legenden gestrickt worden, die erste Frage dazu sei aber: „Haben wir eine kommunikative Erinnerungskultur entwickelt?“ Das hätte bedeutet, dass die Großeltern den Kindern und wiederum den Enkelkindern die Familiengeschichte erzählen, so Friedman.

„Die Bundesrepublik Deutschland war ein Schweigeland – ein Land, in dem die Erinnerung in einen Safe gesteckt wurde, weil immer ein Stück der eigenen Tat oder Unterlassung in Gefahr war, entdeckt zu werden.“

Friedman hat Mitläufer und überzeugte Nazis im Nachkriegsdeutschland erlebt

Die Schweigekultur habe er in seiner Kindheit im Nachkriegsdeutschland bewusst wahrgenommen. „Ich erlebte in dieser Zeit Lehrer, Lehrerinnen, Polizisten, Verwaltungsbeamte, eigentlich überall Menschen, von denen ich annehmen musste, sie hätten den kleinen Michel ein paar Jahrzehnte vorher der Gestapo übergeben.“

In seinem aktuellen Buch „Fremd“ (September 2012) hat Friedman seine Lebenserinnerungen als Kind von Holocaust-Überlebenden aufgeschrieben.

Michel Friedman über sein Buch „Fremd”:

Prominente Zeitzeuginnen des Holococaust gestorben

Prominente Zeitzeuginnen wie Inge Deutschkron, Zilli Schmidt oder auch Trude Simonsohn, die ihr Leben dem Kampf gegen den Antisemitismus gewidmet hatte, sind im 2022 verstorben und mit ihnen die lebendige Erinnerung an die Verbrechen der NS-Zeit.


Michael Friedman

Michel Friedman entstammt einer polnisch-jüdischen Familie aus Krakau. Einzig seine Eltern und seine Großmutter überlebten als „Schindlerjuden“ durch die Hilfe des Unternehmers Oskar Schindler den Holocaust.

Friedman wurde 1956 in Paris geboren, 1965 zog seine Familie nach Deutschland. Nach dem Abitur studierte er Medizin und Jura und ließ sich als Rechtsanwalt in Frankfurt nieder.

Friedman war stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland , Herausgeber der Jüdische Allgemeinen, Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses und moderierte Talksendungen beim Hessischen Rundfunk und beim Sender N24.

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Kiepenheuer & Wietsch Verlag, 288 Seiten, 22 Euro
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