Boycott Katar 2022 (Foto: IMAGO, IMAGO/Norbert Schmidt)

Fußball-WM in Katar

Tote auf Baustellen, Homophobie und Kommerz: Rufe nach WM-Boykott verstummen nicht

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Franziska Kiedaisch
Franziska Kiedaisch, Autorin und Redakteurin, SWR Kultur (Foto: SWR, Franziska Kiedaisch)

Die Fußball-WM in Katar sorgt für reihenweise negative Schlagzeilen: Homosexualität ist im Wüstenemirat verboten, Frauen werden benachteiligt, die Rechte von ausländischen Arbeiter*innen mit Füßen getreten und die Umstände der WM-Vergabe werfen obendrein Fragen auf. Aufrufe zum Boykott mehren sich.

Boykottaufrufe der WM in Katar (Foto: IMAGO, Picture Point LE)
Fans von RB Leipzig rufen während eines Bundesligaspiels gegen den SC Freiburg zum Boykott der WM auf. Etliche Fanvertretungen schließen sich den Boykottaufrufen an.

Mit Plakaten wird im Stadion zum Boykott aufgerufen

Die Fan-Szene ist sichtlich sauer: In den Tagen vor dem WM-Start regt sich in vielen deutschen Stadien Protest. Anhänger etwa von Herta BSC, Bayern München, RB Leipzig, dem SC Freiburg oder BVB bringen während Bundesligaspielen ihren Unmut über den Austragungsort mittels Protestplakaten zum Ausdruck und rufen auf den Tribünen zum Boykott der diesjährigen WM auf.

Die Initiative „Boykott Quatar 2022“, der sich etliche Fan-Organisationen angeschlossen haben, legt Fußballzuschauern nahe, auf die TV-Übertragungen und Merchandise-Artikel in diesem Jahr gänzlich zu verzichten. Von Sportlern und Funktionären wird eine klarere politische Positionierung gefordert und Medienvertreter werden ermutigt, flankierend zur Sportberichterstattung auch über kritische Befunde aus Katar zu informieren. Immer mehr Menschen werden laut und kritisieren die WM-Vergabe.

Wut über eklatante Menschenrechtsverletzungen

Erzürnt zeigen sich Fans und Vertreter unterschiedlichster Interessenverbände über die eklatanten Menschenrechtsverletzungen im Land, besonders die Situation der für den Stadionbau ins Land geholten und ausgebeuteten Gastarbeiter*innen sorgt für weltweite Empörung: zahlreiche sind unter ungeklärten Umständen verstorben.

Boykottaufrufe der WM in Katar (Foto: IMAGO, IMAGO/MIS)
Solidarität mit den toten Arbeiter*innen: Fans des Drittliga-Vereins 1860 München zeigen während eines Fußballspiels Kreuze. Damit wollen sie auf die verstorbenen Arbeiter*innen bei der WM in Katar aufmerksam machen. Jedes Kreuz soll einen toten Menschen symbolisieren.

Amnesty International und Human Rights Watch fordern die Einrichtung eines gemeinsamen Entschädigungsfonds von FIFA und Katar in Höhe der WM-Preisgelder von 440 Millionen Dollar für Arbeiter*innen, die während des Einsatzes auf WM-Baustellen getötet oder verletzt worden sind. Der DFB unterstützt diese Forderung, die Regierung in Katar lehnt sie jedoch entschieden ab.

Homophobie sorgt für Empörung

Auch die homophobe Aussage des katarischen WM-Botschafters Khalid Salman sorgt für internationale Empörung: Im Zuge eines ZDF-Interviews bezeichnete er Homosexualität als einen „geistigen Schaden“. Der Lesben- und Schwulenverband fordert die Regierung auf, alle diplomatischen Reisen während und zur WM in Katar abzusagen. Das Auswärtige Amt verurteilt ebenfalls die homophoben Äußerungen.

Daneben liegen die Umstände, die zur Vergabe der WM an Katar geführt haben, nach wie vor im Dunkeln. Von einer gekauften WM ist unter Kritikern die Rede und davon, dass die Vergabe nicht sportlichen, sondern allein kommerziellen Interessen gefolgt sei. Der Aspekt Klimaschutz ist in Anbetracht vollklimatisierter Stadien in einem Wüstenemirat ebenfalls ein Kritikpunkt.

Eine Mehrheit möchte die WM ohnehin nicht sehen

Derzeit wird insbesondere ein TV-Boykott der WM diskutiert. Wenn man die Veranstaltung nicht mehr stoppen kann, sollte man zumindest nicht zuschauen, so die Überlegung.

Diese Ansicht deckt sich offenbar mit der vorherrschenden Meinung in Deutschland: Mehr als jede*r Zweite möchte sich laut einer repräsentativen Infratest-dimap-Umfrage im Auftrag der Sportschau die WM nicht anschauen. 56 Prozent der Befragten gaben an, die WM am Bildschirm zu boykottieren. Nur 18 Prozent unter den Befragten möchten „genauso viele“ Spiele der WM schauen wie bisher.

Public Viewing wird zur Gewissensfrage

Nicht nur Fußball-Fans, sondern auch Gastwirte schauen normalerweise gespannt auf die WM. Doch die anhaltende Kritik am sportlichen Großereignis in Katar wirft auch lange Schatten auf eine mögliche Live-Übertragung in Gaststätten, Bars und Kneipen. Viele Wirte entscheiden sich deshalb gegen ein Public Viewing.

Alternativprogramme zur WM gibt es inzwischen in vielen Kneipen, Projekten und Städten. Hier zwei Beispiele, die höchst nachahmenswert sind: eines aus Nürnberg, eines aus Kassel. Wäre schön, wenn das Schule macht... #BoycottQatar2022 #nichtunserewm #back2bolzen https://t.co/cPIwHFLtmg

Wie SWR-Umfragen ergeben haben, sind weder in Baden-Württemberg noch in Rheinland-Pfalz Fanmeilen oder Public Viewing im öffentlichen Raum größerer Städte geplant.

Einzelhandel beklagt mieses WM-Geschäft

Unterdessen zeigt sich der Einzelhandel enttäuscht über ein bisher schlechtes Geschäft mit WM-Artikeln. So beklagt etwa der Handelsverbund Intersport, dass Fanartikel wie etwa Trikots in diesem Jahr wesentlich schlechter nachgefragt seien als üblicherweise. Auch Hermann Paul, Geschäftsführer des Panini Verlags, erwartet ein deutlich schlechteres Geschäft mit den Sammelbildern als bei früheren Turnieren, wie er der „Augsburger Allgemeinen“ sagte.

Branchenkenner machen für dieses Phänomen aber nicht allein die Empörung über den WM-Austragungsort verantwortlich, sondern auch den Zeitpunkt. Bei Schmuddelwetter in Deutschland sei die Fußball-Euphorie ohnehin getrübt, heißt es.

Boykottaufrufe der WM in Katar (Foto: IMAGO, IMAGO / Revierfoto)
„Mehr Tote als Spielminuten“: Die Fußball-Euphorie ist in diesem Jahr äußerst getrübt.

Viele Fußballer bleiben stumm  

Während Fans, Interessenvertreter und Politiker*innen die Menschenrechtsverstöße in Katar verurteilen, bleibt ein klares Statement von Fußballern und Funktionären oftmals aus. Nach der homophoben Äußerung des katarischen WM-Botschafters übten nur wenige öffentlich Kritik an Katar. Einer von ihnen ist Nationalspieler Leon Goretzka, der von einem „Menschenbild aus einem anderen Jahrtausend“ spricht und feststellt: „So eine Aussage zu treffen, ist absolut inakzeptabel“.

Der ehemalige Nationalspieler Thomas Hitzlsperger, der 2014 als erster prominenter deutscher Fußballer seine Homosexualität öffentlich machte, erklärt in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ Bedauern darüber, dass die Nationalspieler nicht klarer Position bezögen, zeigt aber auch Verständnis.

„(...) am Ende sind Spieler umgeben von ihrem engen Beraterumfeld. Dort wird oftmals bestimmt, was sie wann sagen, welche Botschaften sie senden. Und – das weiß ich aus meiner eigenen Profizeit – dieses Umfeld ist an einer solchen Positionierung nur selten interessiert.“

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