Pflegeexperte Stefan Sell empfiehlt

Pflegenotstand: "Babyboomer sollten sich um Alten-WGs kümmern"

Stand
MODERATOR/IN
Michael Lueg
SWR1-Moderator Michael Lueg (Foto: SWR, SWR1 -)
ONLINEFASSUNG
SWR1

Der Pflegenotstand ist bei uns in Deutschland ein Dauerthema, während es in anderen EU-Ländern neue Ansätze gibt, das Problem in der Pflege zu lösen.

Wir haben mit dem Sozialwissenschaftler und Pflegeexperten Prof. Stefan Sell von der Hochschule Koblenz über das niederländische Zeitmodell und über die Zukunft mit dem Pflegenotstand gesprochen. Für die Babyboomer empfiehlt er, sich zu vernetzen und Alten-WGs zu gründen.

Audio herunterladen (4,4 MB | MP3)

Sell: Deutsches Pflegesystem ist unterfinanziert

SWR1: Liegt es an der Summe vieler kleiner Probleme, oder gibt es aus Ihrer Sicht eine Sache, die über allem steht und unser Pflegesystem herunterzieht?

Stefan Sell: Es ist das gesamte System der Altenpflege, sowohl in den Heimen, wie auch bei den vielen Pflegedienste und vor allem die häusliche Pflege. Etwa 80 Prozent aller Leute werden in ihrem Zuhause von den Angehörigen gepflegt. Das System ist, auch im internationalen Vergleich, unterfinanziert.

Und dann haben wir noch ein Problem: Selbst wenn Geld da wäre, fehlen uns vorne und hinten die Leute. Wir haben einen Personalmangel, der sich in den vergangenen 20, 30 Jahren aufgebaut hat und sehen jetzt das Ergebnis eines langen Prozesses.

Wir stehen uns dabei selber im Weg, weil wir in Deutschland eine Art "Minutenpflege“ haben, bei dem die ambulanten Pflegekräfte jeden Handgriff dokumentieren und abrechnen.

Lösungsansätze für die Pflege aus dem Ausland

SWR1: In den Niederlanden ist es üblich, dass das Bezahlsystem sich nicht mehr an der einzelnen, erbrachten Pflegeleistung orientiert, sondern an der Zeit, die für die Pflege aufgewandt wird. Wäre das eine Lösung bei uns?

Sell: Das ist eine ein ganz wichtiger Lösungsvorschlag, der auch schon modellhaft ausprobiert wird. Aber wir stehen uns dabei selber im Weg, weil wir in Deutschland eine Art "Minutenpflege" haben, bei dem die ambulanten Pflegekräfte jeden Handgriff dokumentieren und abrechnen.

Da sind die Niederländer viel, viel weiter. Die wissen: Im Durchschnitt werden die Pflegekräfte die vorhandene Zeit, die ihnen bezahlt wird, schon vernünftig auf die einzelnen Pflegefälle verteilen. Davon hätte man schon längst lernen können. Wir stehen vor einem nur historisch zu verstehenden, sehr bürokratischen System. Aber das kennen wir ja auch aus anderen Bereichen.

Sigmaringen

Ausbildungsprojekt in Sigmaringen Weiter in der Pflege bleiben? Das sagen Azubis nach 13 Tagen Pflegeheim

27 Auszubildende haben im "Haus Faigle" in Sigmaringen mitangepackt. Sie waren fast zwei Wochen lang für 24 Bewohnerinnen und Bewohner mit Behinderungen zuständig. Hat das funktioniert?

SWR4 BW am Morgen SWR4 Baden-Württemberg

Großer Mangel an Pflegekräften

SWR1: Wenn sich eine Pflegekraft beim Patienten mehr Zeit lassen kann, weil sie fair bezahlt wird, gibt es aber natürlich nicht weniger Arbeit zu erledigen und der Personalmangel bleibt ja auch bestehen.

Sell: Das ist ein ganz großes Problem, für das es leider keine wirklich optimistische Lösung gibt. Das kann man an einem scheinbaren Widerspruch deutlich machen. Wir haben in den vergangenen Monaten hier im Land intensiv über die Vier-Tage-Woche, also über Arbeitszeitverkürzung, gesprochen. Da wurde immer gesagt, dass wir ja jetzt schon einen Mangel an Pflegekräften haben.

Schon heute arbeiten die meisten Pflegekräfte schon Teilzeit. Nicht weil sie nicht wirklich Vollzeit arbeiten wollten, sondern weil sie sagen, sie können diese Arbeit eigentlich nicht in Vollzeit machen.

Tatsächlich wäre es durchaus sinnvoll, in diesen Bereichen, in dem schwer belastete Arbeit geleistet wird, mit einer Arbeitszeitverkürzung die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Das ist ein scheinbarer Widerspruch, denn dann hätte man ja noch weniger Pflegekräfte.

Ein Pfleger läuft mit einer Bewohnerin den Gang entlang. Immer mehr Mitarbeiter in der Pflege wechseln in die Zeitarbeit, im Landkreis Karlsruhe zum Beispiel Alexander Gasch. (Foto: dpa Bildfunk, Christoph Schmidt)
In Deutschland fehlen in der Pflege unzählige Fachkäfte. Stefan Sell schaut für Lösungsansätze für den Pflegenotstand auch ins Ausland.

Mit Blick auf die Zukunft, in der uns hunderttausende Pflegekräfte fehlen werden, wäre die Arbeitszeitverkürzung aber sinnvoll, um dann damit bessere und attraktivere Arbeitsbedingungen zu bieten, damit auch Nachwuchs kommt, damit Leute in diesen Bereich reingehen. Das ist also ein scheinbarer Widerspruch, der aber mit Blick auf die Zukunft wichtig wäre, um das Berufsfeld deutlich attraktiver zu machen.

Denn nicht nur das Geld ist in diesem Bereich wichtig. Die Zeit ist ganz elementar. Schon heute arbeiten die meisten Pflegekräfte in den Heimen, aber auch in den ambulanten Pflegediensten schon Teilzeit. Nicht weil sie nicht wirklich Vollzeit arbeiten wollten, sondern weil sie sagen, sie können diese Arbeit eigentlich nicht in Vollzeit machen.

Video herunterladen (432,4 MB | MP4)

Sell: Babyboomer sollten sich um Alten-WGs kümmern

SWR1: Könnte es der Pflege in Deutschland helfen, wenn sich Menschen früher Gedanken darüber machen, sich vorsorglich um die eigene Pflege zu kümmern?

Sell: Ja, natürlich, aber was heißt "kümmern"? Wenn sie Beiträge zur Pflegeversicherung bezahlen, dann ist das auch eine Vorsorge. Das Problem ist, dass in den nächsten 15 Jahren die ganzen Babyboomer den Arbeitsmarkt verlassen werden. Viele von denen werden in 20 oder 25 Jahren selber von Pflegebedürftigkeit betroffen sein. Und das werden wir mit professionellen Pflegekräften, so wie heute nicht mehr stemmen können.

Ich könnte jetzt etwas zynisch sein und sagen, die Babyboomer haben in den 1980er Jahren als junge Menschen ihre Erfahrungen mit Wohngemeinschaften gesammelt. Diese Generation sollte sich rechtzeitig darum kümmern, ein Netzwerk mit Menschen aufzubauen, mit denen sie gemeinsam alt werden und mit denen sie beispielsweise in Alten-Wohngemeinschaften leben, um dann ein halbwegs ordentliches Leben führen zu können.

Das Gespräch führte SWR1 Moderator Michael Lueg.

Mehr zum Thema Pflege

Speyer

Lange Wartelisten im Altenheim Caritas-Chef in Speyer: "Das System Pflege ist krank"

Fachkräftemangel und Geldnot in der Altenpflege sind nicht neu. Doch die Folgen werden immer dramatischer, etwa in den Altenheimen der Caritas im Bistum Speyer.

SWR4 RP am Morgen SWR4 Rheinland-Pfalz

Bitburg

Zu wenig Fachkräfte Notstand in der Eifel: Wer pflegt künftig die Menschen im Dorf?

Wer versucht, ambulante Pflege für einen Familienangehörigen zu organisieren, der stößt schnell an Grenzen. Auch in der Eifel spitzt sich die Lage weiter zu.

SWR4 RP am Morgen SWR4 Rheinland-Pfalz

Mehr Interviews

Mainz

Neue Weinmesse in Mainz Biodynamischer Anbau – mehr als nur Bio-Wein

In Mainz findet die erste biodynamische Weinmesse statt. Wie sich diese Anbauform vom herkömmlichen Bio-Anbau unterscheidet, hat uns Winzer Johannes Hoffmann erzählt.

Der Nachmittag SWR1 Rheinland-Pfalz

Mainz-Drais

Obstbauer aus Mainz-Drais berichtet Kälteeinbruch: Lage bleibt für Obstbauern angespannt

Wenn es nachts kalt wird und Temperaturen um die Null Grad herrschen, stoßen viele Obst- und Weinbauern auf Probleme. Denn bei Kälteeinbrüchen steht die Ernte auf dem Spiel.

Guten Morgen RLP SWR1 Rheinland-Pfalz

Dr. Armin Schneider zum Kita-Fachkräftemangel "Wir müssen uns als Gesellschaft überlegen, was wir wirklich wollen!"

Für eine gute Kita-Betreuung sollte sich eine Fachkraft um nicht mehr als drei Kinder kümmern. Das schaffen in Rheinland-Pfalz die wenigsten Landkreise.

Guten Morgen RLP SWR1 Rheinland-Pfalz