Pillen in einer Hand (Foto: picture-alliance / Reportdienste, Picture Alliance)

Geschlechtersensible Medizin

"Frauen haben häufiger Nebenwirkungen als Männer"

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Männer sind anders krank als Frauen. Darüber gibt es eine Menge Witze. Aber das Thema kann ernst werden, wenn Symptome nicht richtig gedeutet werden. Wir haben mit Dr. Ute Seeland von der der Charité in Berlin darüber gesprochen, welche Folgen es haben kann, wenn das Geschlecht bei der Behandlung ignoriert wird.

SWR1: Wie äußert sich denn ein Herzinfarkt bei einer Frau – und wie bei einem Mann?

Ute Seeland: Frauen neigen dazu, der Ärztin oder dem Arzt sehr viele verschiedene Symptome im Patientengespräch zu nennen. Und bei diesen Symptomen sind nicht die klassischen Symptome wie der Brustschmerz auf der linken Seite mit Ausstrahlung in den linken Arm dabei, sondern Symptome, die man jetzt nicht sofort einem Herzinfarkt zuordnen würde. Wie zum Beispiel starke Müdigkeit oder Schmerzen zwischen den Schulterblättern, Nacken oder auch im Kiefer oder einfach ein Unwohlsein.

SWR1: Weiß man, warum Frauen und Männer ein unterschiedliches Empfinden haben?

Seeland: Tatsächlich forschen wir und andere schon seit einiger Zeit an diesen Unterschieden und warum diese Unterschiede zustande kommen. Es ist hoch spannend und es ist das Kernstück der geschlechtersensiblen Medizin, dass man sowohl biologische Unterschiede und Ursachen untersucht als auch soziokulturelle Unterschiede. Das bedeutet: Von beiden wird es wahrscheinlich einen Zusammenhang geben zu diesen unterschiedlichen Symptomen.

KollegInnen aus Amerika haben gerade herausbekommen, dass die Pathophysiologie, das heißt die Grundlage, warum eine Durchblutungsstörung am Herzmuskel entsteht, eine andere sein kann. Es muss nicht immer das verengte Herzkranzgefäß sein, das wir alle kennen und was klassisch bei Männern häufiger auftritt, als bei Frauen. Es kann auch sein, dass eben dieses Herzkranzgefäß sich über eine längere Strecke verengt. Und das sieht man dann nicht in dieser Diagnostik, die man normalerweise mit der Herzkatheter-Untersuchung macht.

SWR1: Gibt es denn auch andere Krankheiten als den Herzinfarkt, bei denen das Empfinden ganz unterschiedlich ist?

Seeland: Es gibt das bei fast allen Krankheiten. Wenn man genau hinschaut, dann findet man Unterschiede. Aber wir müssen bei denen natürlich erst einmal bleiben, wo wir auch eine sogenannte evidenzbasierte Grundlage haben. Wir stützen uns ja auf Studien. Und wenn wir aus diesen Studien herausbekommen, dass es in der Symptomatik Unterschiede gibt, dann ist das etwas, was wir auch in die Lehre mit einbringen können.

Bei Depressionen ziehen Frauen sich häufiger zurück, während es bei Männern häufiger sein kann, dass sie aggressives Verhalten zeigen.

Ich nenne zum Beispiel die Depression. Da ist schon ziemlich gut belegt, dass es Unterschiede gibt. Das bedeutet nicht immer stereotyp "so ist das nur bei Frauen" und "nur bei Männern", aber eben häufiger. Wir reden hier immer von Risiken und von Prozenten. Das heißt, dass bei der Depression häufiger Frauen diese klassische Symptomatik haben, mit dem Zurückziehen und sich eher ruhig verhalten und dass sie eher in eine traurige Stimmung gehen. Bei Männern kann es sein, dass sie genau das Gegenteil zeigen. Zum Beispiel ein aggressives Verhalten oder auch Alkohol- und Drogenkonsum. Das sind ganz andere Symptome. Und wenn man das nicht weiß und nicht einer Depression zuordnet, dann kann es sein, dass die Therapie nicht so effektiv ist.

SWR1: Wirken sich die unterschiedlichen Symptome einer Krankheit auf die Medikation aus?

Seeland: Die Medikation ist ein komplexer Bereich. Wir dürfen Medikamente und Dosierungen natürlich nur so einsetzen, wie sie in den Prüfstudien angewandt worden sind. Es ist aber auch so, dass man sieht, dass ein Medikament für eine Gruppe mehr Nebenwirkungen hat als für die andere.

Frauen haben häufiger Nebenwirkungen.

Das ist tatsächlich bei Frauen häufiger der Fall, weil eben die allermeisten Medikamente zwar an beiden Geschlechtern untersucht worden sind, aber die Daten nachher nicht getrennt ausgewertet wurden. Das kann so sein, dass bei der Untersuchung 70 Prozent Männer eingeschlossen worden sind und zum Beispiel nur 30 Prozent Frauen. Um dann die Daten auszuwerten wurden beide Geschlechter in einen Topf geworfen.

Wenn wir aber diese Differenzierung hätten, dann könnten wir auch die Dosierungen viel differenzierter anwenden. Da dies aber nicht der Fall ist, sehen wir eben bei den Frauen häufiger Nebenwirkungen. Und das macht die Therapie häufig schwieriger. Hat man den geschlechtersensiblen Blick, weiß man, worauf es ankommt, weiß man, wo man gucken muss. Dann ist es schon möglich, zumindest die Dosierungen anzupassen.

SWR1: Wie bekannt sind diese Unterschiede bei den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten?

Seeland: Wenn ich Vorträge bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten halte, dann ist es für mich immer wieder erstaunlich, wie wenig an Wissen, das in der Universität generiert worden ist und was wir auch versuchen, medial und über Fachzeitschriften und Kongresse zu verbreiten, wirklich angekommen ist. Das heißt, da ist noch wirklich richtig viel Arbeit zu leisten. Und das machen wir natürlich auch gerade im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin (DGeGM e.V.) sehr gerne.

Das Gespräch führte Frank Jenschar.

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