Es gibt Bilder, die sich über den Moment hinaus einprägen. Die so ikonisch sind, dass sie auch Jahre oder Jahrzehnte später sehr vielen Leuten, auch aus unterschiedlichen Generationen, präsent sind. Am 18. Mai 1996 kam es zu solch einem Moment, der sich ins kollektive Fußball-Gedächtnis einbrannte.
Im damaligen Fernsehstudio des Pay-TV-Senders "premiere" brachen bei Andreas Brehme alle Dämme. In den Armen seines guten Freundes und langjährigen Nationalmannschaftskollegen Rudi Völler konnte der Kapitän des 1. FC Kaiserslautern die Tränen nicht mehr zurückhalten. Völlig aufgelöst wurde der damals 35-jährige Brehme vom Leverkusener Angreifer getröstet.
Beide hatten eine lange und ganz besondere Beziehung. Zwei Weltmeister von 1990 unter sich. Völler hatte im Finale damals gegen Argentinien den Strafstoß herausgeholt, Brehme verwandelt. Nun standen da zwei Freunde vor der Kamera, von denen sich die Anspannung des vorherigen "Abstiegsendspiels" vor den Augen der TV-Zuschauer löste. Es war einer der emotionalsten TV-Auftritte in der Geschichte der Bundesliga. Völler, der mit der Werkself gerade so die Klasse gehalten hatte, bewies dabei enorme menschliche Größe, denn es war sichtbar, dass er trotz aller Freude, die eigentlich zu erwarten gewesen wäre, mit dem Kaiserslauterer litt.
Brehme tut der Abstieg auch heute noch weh: "Das waren Tränen aus Liebe zum FCK. Ich hatte vorher nie wegen eines Fußballspiels geweint - ich war sonst immer auf der Gewinnerseite."
Rudi Völler erinnert sich an den "Zusammenbruch" von Andreas Brehme
Und auch Völler wird bei der Erinnerung an die Szene von vor fast 27 Jahren emotional. "Ich denke noch sehr oft daran, weil es mir für Andreas Brehme leid getan hat. Zu sehen, dass er bei einem TV-Auftritt innerlich zusammenbricht, das hat mir schon weh getan. Da hat man den Druck, der auf ihm gelastet hat, gespürt. Ich habe mich zwar für uns gefreut, dass wir drin geblieben sind, aber es ist mir trotzdem sehr nahe gegangen", so Völler im Gespräch mit SWR Sport.
Duell zweier enttäuschender Teams
Vor dem emotionalen Moment war es am 18. Mai 1996 zum Duell der Leverkusener mit dem FCK gekommen. Beide Teams waren mit Europapokal-Ambitionen in die Saison gegangen, beide schwebten allerdings vor dem 34. Spieltag der Saison 1995/1996 in höchster Abstiegsgefahr.
Die Ausgangslage war klar: Mit dem KFC Uerdingen und Eintracht Frankfurt standen die ersten beiden Absteiger bereits fest. Doch damals gab es keine Relegation. Das heißt, eine dritte Mannschaft würde es auch noch erwischen. Die Roten Teufel belegten vor dem finalen Match eben jenen dritten Abstiegsplatz, hatten aber die Möglichkeit, mit einem Sieg am Konkurrenten aus Leverkusen vorbeizuziehen.
Der 1. FC Kaiserslautern war als Gründungsmitglied der Bundesliga noch nie abgestiegen, die deutsche Eliteliga war ohne den FCK damals für die allermeisten Fußballfans nicht vorstellbar. Dementsprechend hoch war der Druck. Der Vorstand der Pfälzer setzte eigens für die Partie bei Bayer eine Siegprämie von 500.000 Mark aus.
Pavel Kuka lässt Hoffnung aufkommen
Nach einer zähen ersten Halbzeit übernahmen die Gäste, angefeuert von rund 5.000 mitgereisten Anhängern, in der zweiten Hälfte immer mehr die Regie - und wurden dafür belohnt. In der 58. Minute traf der tschechische Angreifer Pavel Kuka per Kopf zum 1:0 für den FCK. Wenig später ließ der Kaiserslauterer Topstürmer allerdings die große Chance zum 2:0 liegen - was sich rächen sollte.
Leverkusen tritt Fairplay mit den Füßen
Denn in der Schlussphase überschlugen sich die Ereignisse. Die Roten Teufel spielten den Ball ins Aus, weil Angreifer Olaf Marschall verletzt behandelt werden musste. Doch Leverkusen trat das Fairplay mit Füßen. Bayer-Star Paulo Sergio warf den Ball zum eigenen Torhüter Dirk Heinen. Der schlug den Ball weit nach vorne zu Völler. Der Angreifer zog ein Foul und holte so einen Freistoß aus fast 30 Metern raus.
Reinke patzt beim Gegentreffer
Nach diesem Freistoß schoss Mike Rietpietsch mittig aufs FCK-Tor, doch Keeper Andreas Reinke wehrte den Ball trotzdem direkt vor die Füße von Markus Münch ab, der volley abschloss und direkt unter die Latte des Kaiserslauterer Kastens traf. Der Ausgleich in der 82. Minute - er traf die Gäste bis ins Mark und war gleichzeitig der Endstand.
Trauriger Bundesliga-Rekord für den FCK
Ein Remis, das nur den Gastgebern half - und nicht den Gästen, für die es das 18. Unentschieden im 34. Saisonspiel war. Bis heute Bundesliga-Rekord und ein Grund für Platz 16.
Der spezielle Abstieg des Martin Wagner
Einer, der ganz besonders litt, war der gelbgesperrte Flügelspieler Martin Wagner. "Ich bin mit meiner Frau privat nach Leverkusen gefahren. Wir mussten noch tanken, ich habe ihr aber gesagt, dass es reicht bis Leverkusen. Hat es aber nicht. Wir sind dann an der Ausfahrt stehen geblieben, das war schon kurz vor Spielbeginn", so Wagner im exklusiven Gespräch mit SWR Sport. " Ich musste dann den ADAC anrufen, die haben uns dann fünf Liter Sprit gebracht."
Wagner: "Es war grausam"
Die Tragödie, die sich ereignete, bekam er deshalb nur aus der Ferne mit: " Bis ich dann im Stadion war, war das Spiel vorbei. Ich habe das Spiel nicht live gesehen, sondern habe mir das im Radio angehört. Und ich bin praktisch am Radio abgestiegen. Als ich dann endlich am Stadion war, kamen uns die ersten Zuschauer entgegen Die haben Rotz und Wasser geheult. Es war grausam, was ich da erlebt habe. Es ist schon bitter, wenn man im Auto absteigt."
Der Klub war am Boden – und mit ihm eine ganze Region
Der erste Abstieg des FCK war nach 33 Jahren, 1118 Spielen und 1828 erzielten Toren besiegelt. Der Klub lag am Boden - und mit ihm eine ganze Region. Dass eine Woche später noch ein ganz besonderes Spiel wartete - nämlich das DFB-Pokalfinale in Berlin gegen den Karlsruher SC - interessierte nach dem Leverkusen-Match und in den Tagen danach eigentlich niemand. Zu groß war der Schock über den Abstieg.
Und doch, es half ja nichts, musste es weitergehen. Abstiegs-Trainer Eckhart Krautzun machte vor dem Endspiel in Zweckoptimismus: "Die Wehwehchen sind abgeklungen, die Tränen der Enttäuschung verwischt." Und Präsident Norbert Thines, der jahrelang unantastbar war und plötzlich von zahlreichen Leuten angefeindet wurde, sagte: "Kritik in dieser schwierigen Situation kann nur reinigend sein. Der FCK muss wieder ein Klub werden, an dem sich eine gebeutelte Region aufrichten und anlehnen kann."
In Berlin stand einiges auf dem Spiel
Und wenn die Roten Teufel sich auf eines verlassen konnten, dann auf ihre Fans. 17.000 Anhänger begleiteten die Pfälzer an Pfingsten 1996 nach Berlin. Das volle Kontingent wurde damit ausgeschöpft. Es stand ja auch viel auf dem Spiel: Ein Titel konnte gewonnen, eine Europapokal-Teilnahme erreicht und viel Geld verdient werden. Geld, das der Klub für die 2. Liga dringend benötigte, um direkt eine aufstiegstaugliche Mannschaft formen zu können.
Martin Wagner mit dem goldenen Treffer
Einer, hinter dem zahlreiche Klubs her waren, machte vor dem Endspiel seinen Verbleib sogar vom Pokalsieg abhängig. "Wenn wir gewinnen, dann bleibe ich", sagte der damalige Flügelflitzer Martin Wagner vorab. Und ausgerechnet der sechsmalige Nationalspieler entschied die Partie mit seinem Freistoßkracher in der 42. Minute. Sein scharf geschossener Ball flutschte ausgerechnet dem heutigen FCK-Trainer Dirk Schuster in der Mauer durch die Beine. Und auch KSC-Keeper Claus Reitmaier bekam die Beine nicht rechtzeitig zusammen, um den mittig geschossenen Ball abwehren zu können.
Novum für Andreas Brehme
In der zweiten Halbzeit verteidigte Kaiserslautern leidenschaftlich gegen anrennende Badener den knappen Vorsprung. Was auch gelang, obwohl Brehme erstmals überhaupt vom Platz flog (75. Minute).
So stand am Ende nur eine Woche nach dem bis dahin schwärzesten Moment der Vereinsgeschichte der Triumph im DFB-Pokal. Wieder war Brehme nach Abpfiff aufgelöst - diesmal aber vor Freude. "Ich bin der Mannschaft dankbar, dass sie es souverän geschafft hat", sagte er. Der Kapitän gestand aber auch: "Ich hätte lieber den Abstieg verhindert, als den Pokal gewonnen."
Olaf Marschall: "Ein bisschen Versöhnung"
Ähnlich sieht es knapp 27 Jahre später Klublegende Olaf Marschall. "Der Sieg im DFB-Pokal war schön, aber im Zusammenhang mit dem Abstieg war das grausam. Ich erinnere mich noch an den Support unserer Fans. Dass wir den Pokal in dieser Regenschlacht gewonnen haben, war ein bisschen Versöhnung", so der frühere Stürmer im Gespräch mit SWR Sport.
Einen Tag nach dem Pokaltriumph wurde dann in der Pfalz noch einmal kräftig gefeiert. Knapp 15.000 Fans empfingen die Pokalhelden auf dem Kaiserslauterer Rathausplatz. Zu spüren war bereits damals eine Mischung aus Stolz und Trotz. "Wir kommen in einem Jahr wieder" war allerorten zu hören, während im Hintergrund bereits die Planungen für die 2. Liga anliefen. Und zwar mit einer dank des DFB-Pokals und der Europapokal-Teilnahme gut gefüllten Kasse.
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