Meeresforschung

Antarktis: Leben unter 900 Meter dickem Eis entdeckt

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AUTOR/IN
Katharina Stephan

In der Antarktis stieß eine Forschungsgruppe zufällig auf Organismen, die unter dickem Schelfeis auf einem Felsblock leben – weit weg vom offenen Meer. Dass festsitzende Meerestiere dort leben können, hielten die Forschenden eigentlich für unwahrscheinlich.

Eine internationale Forschungsgruppe um Dr. Huw Griffiths vom britischen Polarforschungsprogramm British Antarctic Survey rätselt über einen zufälligen Fund: Unter 900 Meter dickem Schelfeis und 260 Kilometer weit vom offenen Meer entfernt leben Organismen auf einem Felsblock am Meeresgrund. Sie lassen damit die Theorie anzweifeln, dass sesshaftes Leben unter antarktischem Schelfeis umso unwahrscheinlicher wird, je weiter weg die Eisfront ist.

Sesshaftes Leben unter dem Filchner-Ronne-Schelfeis

In der Antarktis gibt es viel Schelfeis. Das sind mindestens zwei Meter hohe Eisplatten, die auf dem Meer schwimmen, aber noch mit dem Festland verbunden sind. Gespeist werden sie zum Beispiel durch einen Gletscher. Das Filchner-Ronne-Schelfeis ist die zweitgrößte Eisplatte in der Antarktis. Es bedeckt rund 420.000 Quadratkilometer des Meeresbodens. Unter diesem Schelfeis fanden Polarforschende durch einen Zufall einen Felsblock. Kamera-Aufnahmen zeigen, dass festsitzende Organismen darauf leben.

Die Forschenden vermuten, dass es sich dabei um mindestens zwei verschiedene Schwamm-Arten handelt: gestielte und nicht-gestielte Schwämme. Außerdem könnte dort noch eine dritte Schwamm-Art leben, es könnten aber auch andere Lebewesen sein. Schwämme sind vielzellige Meerestiere, die sich nicht fortbewegen können, um zum Beispiel nach Nahrung zu suchen. Sie filtern stattdessen organische Nahrungspartikel aus dem Wasser heraus. Genau das macht die Entdeckung so überraschend.

Fund widerspricht der Theorie

Das Besondere an den Organismen ist nämlich, dass sie scheinbar sehr weit unter einer fast 900 Meter dicken Eisplatte überleben können: Der Felsblock liegt rund 260 Kilometer weit vom offenen Meer entfernt, in 1.233 Meter Tiefe. Die Wassertemperatur beträgt dort -2,2 Grad Celsius. Wegen des hohen Drucks gefriert es aber noch nicht. Die Forschenden schreiben, dass es laut Theorie fast unmöglich sei, sesshafte Lebewesen so weit entfernt von der offenen Meeresoberfläche zu finden.

Was wir gefunden haben, war überraschend, denn wir hätten nie erwartet, dass diese Art von Tieren, die ihre Nahrung aus der Wassersäule filtern, so weit entfernt von einer Nahrungsquelle oder dem Tageslicht zu finden sind.

Denn solche festsitzenden Meerestiere, wie etwa Schwämme, ernähren sich durch organische Nahrungspartikel, die im Meer schwimmen. Diese Partikel können unter anderem durch Photosynthese recht nahe an der Meeresoberfläche entstehen. 260 Kilometer von der freien Oberfläche und in 1.233 Meter Tiefe ist das aber nicht möglich. Die Forschenden vermuten zudem, dass die nächste Photosynthesequelle wegen der Strömungen nicht 260, sondern zwischen 625 und 1.500 Kilometern in die andere Richtung liegt. Wie die Organismen bei solchen extremen Bedingungen überleben, wie und wovon sie sich ernähren, gehören zu den noch offenen Fragen.

Forschende stehen vor mehreren Rätseln

Die Entdeckung der Organismen ist ein glücklicher Zufall. Eigentlich wollten die Forschenden unter dem Filchner-Ronne-Schelfeis Sedimentproben entnehmen. Dafür wurden schon in den Jahren 2015 - 2017 Bohrlöcher durch die bis zu knapp 900 Meter dicke Eisplatte gebohrt. Eine Kamera, die sie durch eines der Bohrlöcher hinabließen, stieß dann zufällig auf den belebten Felsen.

Das bedeutet, dass wir wirklich nicht so viel wissen. Und die Gesamtfläche, die Menschen unter dem Schelfeis gesehen haben, umfasst etwa die Größe eines Tennisplatzes.

Die Forschenden schreiben, dass sie bisher noch extrem wenig über die mehr als 1,5 Millionen Quadratkilometer große Fläche unter dem antarktischen Schelfeis wissen. Deshalb werfe die Entdeckung dieser sesshaften Organismen so weit und tief unter dem Schelfeis mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Unklar ist zum Beispiel noch, um welche Schwamm-Arten es sich auf dem Felsen handelt und wie alt sie sind.

Bisher gebe es aber noch keine geeignete Technik, mit der man Proben der Schwämme entnehmen könne. Deshalb müssten die Polarforschenden erst neue Wege entwickeln, um die Organismen genauer untersuchen zu können. Solche Untersuchungen könnten dann auch die Frage klären, wie und wovon sie sich ernähren. Unklar ist auch, welche Folgen der Klimawandel für diese, aber auch andere Lebewesen unter und auf dem Eis hat.

Jochen Steiner im Gespräch mit dem Meeresbiologen Prof. Julian Gutt, Alfred-Wegener-Institut.

Weitere Forschungen zu den Lebenswelten unter dem antarktischen Schelfeis könnten die Entdeckung dann noch genauer einordnen: Wie stark sind diese Schwamm-Arten verbreitet? Passen sich sesshafte Organismen den lebensfeindlichen Bedingungen so weit unter dem Schelfeis an? Gibt es überhaupt noch andere sesshafte Organismen so weit unter den antarktischen Eisplatten? Die Forschungsgruppe ist sich einer Sache aber ganz sicher: Die Entdeckung dieser Organismen stellt bisherige Annahmen zum Leben unter Schelfeis in Frage.

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Katharina Stephan