Wegen Corona-Lockdown

Diabetes Typ 1 bei Kindern bleibt oft unentdeckt

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Oliver Schönfeld
INTERVIEW
Prof. Andreas Neu

Durch die Corona-Pandemie hat sich die Zahl der Kinder mit einer lebensbedrohlichen Stoffwechselentgleisung aufgrund eines unerkannten Diabetes verdoppelt. Ein Gespräch mit Professor Andreas Neu vom Uniklinikum Tübingen, Vizepräsident der Deutschen Diabetes-Gesellschaft.

Wie lässt sich dieser sprunghafte Anstieg einer diabetesbedingten Stoffwechselentgleisung erklären?

Eine sogenannte Ketoazidose – das ist eine schwere Überzuckerung mit Übersäuerung des Körpers infolge eines Insulinmangels – ist in der Tat etwas Gefährliches und unter Umständen lebensbedrohlich. Der Anstieg während des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 hat mehrere Ursachen:

1. Während dieser Phase lag die Aufmerksamkeit auf anderen Krankheitszeichen. Man hat Infektzeichen beachtet, Fieber kontrolliert und solche Dinge.

2. Aus Angst vor Ansteckung wurden Arztbesuche, so gut es ging, vermieden.

3. Viele Routinetermine und Vorsorgeuntersuchungen wurden verschoben. Häufig wird ein Diabetes im Rahmen eines Routinetermins entdeckt.

4. War das Sprechstundenangebot in vielen Praxen oder medizinischen Einrichtungen reduziert.

Die Summe dieser Faktoren hat dazu geführt, dass in vielen Fällen die Diabetesmanifestation deutlich zu spät erkannt wurde.

Die Anzahl von Kindern mit Diabetes ist also nicht gestiegen?

Die Anzahl hat sich im letzten Jahr nicht verändert. Sie ist in dem Rahmen angestiegen, wie in den letzten 20 Jahren zuvor. Das heißt, coronabedingt hat sich hier kein Schub ergeben.

Ein Mädchen sitzt mit ihrem Vater bei einer Ärztin im Behandlungsraum und bekommt ein Blutzuckermessgerät gezeigt. (Foto: IMAGO, IMAGO / MASKOT)
Eine aktuelle Studie zeigt, dass sich während des Lockdowns im Frühjahr in Deutschland die Zahl der Kinder mit einer lebensbedrohlichen Stoffwechselentgleisung, aufgrund eines unentdeckten Diabetes, verdoppelt hat.

Von wie viel Kindern sprechen wir da in Deutschland?

In Deutschland sind rund 32.000 Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren an einem Typ-1-Diabetes erkrankt.

Was ist Diabetes-Typ-1 und was sind die Folgen?

Beim Typ-1-Diabetes wird das lebenswichtige Insulin nicht mehr produziert. Die Glukoseverwertung ist infolgedessen gestört. Das heißt, die Zellen können den Zucker nicht mehr aufnehmen und für ihre Energieproduktion verwenden. Somit haben wir ein Überangebot von Kohlenhydraten im Organismus. Das heißt, zu viel Glukose. Diese kann aber nicht genutzt werden und der Organismus verhungert innerlich.

Woran kann ich erkennen, ob mein Kind eventuell ein Diabetes entwickelt?

Die Symptome sind relativ leicht zu erkennen:

  • Häufiges Trinken,
  • häufiges Wasserlassen,
  • Gewichtsabnahme und
  • Leistungseinbruch.

Das sind die klassischen Symptome einer Diabeteserkrankung. Diese Symptome sind, wenn man sie erkennt, einfach zu identifizieren. Auf der anderen Seite sind sie aber auch nicht dramatisch - niemand hat Schmerzen, niemand blutet. Deshalb ist es wichtig, Symptome sehr bewusst wahrzunehmen.

Zwei Kinderspielzeugfiguren stehen auf einem Holzlöffel voller Zucker. (Foto: IMAGO, IMAGO / agefotostock)
Diabetes Typ1: Der Körper kann das Hormon Insulin nicht mehr oder nicht genügend herstellen, um den Blutzuckerspiegel zu senken.

Sollten Kinder- und Jugendärzte den Eltern bei Vorsorgeuntersuchungen diese Symptome noch intensiver an die Hand geben?

Wir glauben, dass alle, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, Eltern, Erzieher:innen, Lehrer:innen, Sportbetreuer:innen, diese Warnzeichen eines Diabetes kennen sollten. Denn seit 20 Jahren hat sich in Deutschland die Zahl der schweren Stoffwechselentgleisungen nicht reduziert. Wir sprechen von 20 Prozent aller Diabetesneuerkrankungen, die mit dieser Komplikation einhergehen. Das ist eine Situation, von der wir denken: Sie ist so nicht tragbar. Wir müssen etwas unternehmen. Das Erste, was wir tun können, ist eine Aufklärungskampagne. Die haben wir - die Fachgesellschaften zusammen mit dem Berufsverband für Kinder- und Jugendärzte - für dieses Jahr in Angriff genommen.

Ein Mädchen prüft an ihrem rechten Ringfinger mit einem Glukometer ihren Blutzuckerspiegel. (Foto: IMAGO, IMAGO / YAY Images)
Im Umgang mit Diabetes, z.B. bei der Diagnose, in der Technik (Spritzen, Blutzuckermessung) und bei Innovationen für den Alltag der Betroffenen, gab es in den letzten Jahren deutliche Fortschritte.

Was hat sich in den letzten Jahren bei der Entwicklung und Behandlung gegen Diabetes deutlich verbessert?

Die Therapien sind durch die technischen Innovationen ganz anders geworden, als noch vor wenigen Jahren. Fast alle Kinder haben eine sogenannte kontinuierliche Glukosemessung. Das heißt, einen kleinen Katheder im Unterhautfettgewebe und ein Lesegerät, dass permanent den Glukosegehalt im Organismus anzeigt. Viele Kinder nutzen heute für die Insulin-Injektion nicht mehr die Spritze oder eine ähnliche Variante den PEN, sondern eine Insulinpumpe. Sie verabreicht kontinuierlich, teilweise automatisiert, das Insulin und simuliert somit die Funktion der natürlichen Bauchspeicheldrüse. Diese technischen Neuerungen sind in der Kinderdiabetologie heute geradezu Standard und haben das Leben der Betroffenen deutlich erleichtert.

Allerdings bleibt es trotzdem eine Herausforderung mit diesen technischen Hilfsmitteln umzugehen. Denn nach wie vor ist der Typ-1-Diabetes eine chronische Erkrankung, die sich in vielen Alltagssituationen bemerkbar macht und die wir behandeln, aber nicht heilen können.

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