AIDS hat heute, zumindest in den reichen Industrieländern, wesentlich schlechtere Chancen als noch vor 20 Jahren. Denn: Inzwischen gibt es hochwirksame Arzneimittel. Das Problem ist allerdings, dass diese täglich eingenommen werden müssen, sonst sinkt der Schutz.
Das Medikament Sunlenca mit dem Wirkstoff Lenacapavir könnte das nun ändern. Bisher ist es nur aus der Behandlung nach einer HIV-Infektion bekannt. Neue Studien legen aber nahe, dass das Medikament Menschen auch effektiv vor Neuinfektionen schützen kann. Eine Injektion soll bis zu einem halben Jahr lang wirken.
Im Gespräch mit Stefan Troendle erklärt Prof. Clara Lehmann, was dieses Medikament so besonders macht. Sie ist die Leiterin der Infektionsambulanz an der Uniklinik in Köln.
Lenacapavir: ein Medikament mit langanhaltender Wirkung
Stefan Troendle, SWR: Nur eine Spritze und dann ein halbes Jahr Schutz vor HIV. Ist das wirklich so einfach?
Prof. Clara Lehmann: Ja, das ist tatsächlich so. Das ist eine bahnbrechende Studie gewesen, mit ganz hervorragenden Ergebnissen, die wir so noch nie beobachtet haben und die insgesamt die ganze Prävention im Bereich HIV grundlegend verändern wird. Das hat man so in dieser Form noch nie beobachten können.
SWR: Können Sie beschreiben, wie Lenacapavir wirkt und wieso das Medikament so lange wirken kann.
Lehmann: Lenacapavir ist ein Medikament, was eigentlich zur Therapie von HIV entwickelt worden ist. Es hemmt den Replikationszyklus, also den Vermehrungszyklus von HIV an seiner Oberflächenstruktur.
Dieses Medikament kann man sowohl in Tablettenform einnehmen, aber auch unter die Haut spritzen, das nennt man subkutan. Das Medikament ist so gut formuliert, also so gut biochemisch und chemisch geschaffen, dass kontinuierlich immer eine ausreichende Dosis in das Blut und in die Schleimhäute kommt.
Kommt man dann in Kontakt mit HIV, dann wird das Virus direkt geblockt, weil dieser Wirkstoff bereits im Blut beziehungsweise in den Schleimhäuten vorhanden ist. Und das reicht sechs Monate aus.
Wie umfassend schützt das Medikament vor einer HIV-Infektion?
SWR: Wie sicher ist das denn?
Lehmann: In den Studien ist es extrem gut vertragen worden. An der Einstichstelle hat man einige Rötungen oder eine Verhärtung, vor allem am Anfang, aber dann wird es extrem gut vertragen.
Bislang sind keine wesentlichen Nebenwirkungen oder Toxizitäten beschrieben worden, sodass man zum aktuellen Zeitpunkt sagen muss, dass es eine ganz hervorragende Substanz ist. Sie ist zum einen sehr wirksam hinsichtlich des Schutzes, dass man eine HIV-Infektion gar nicht erst bekommt, es sind aber auch keine Nebenwirkungen vorhanden, die möglicherweise etwas einschränkend sein könnten.
SWR: Und wie effektiv ist das Ganze, wenn man das mal genauer beschreibt?
Lehmann: Es gibt zwei Studien, die durchgeführt worden sind. Zwei Phase 3 Studien, das sind Studien, die kurz vor der Zulassung durchgeführt werden. Da gibt es einmal die Purpose One und dann die Purpose Two Studie.
Die Purpose One Studie ist nur bei Frauen durchgeführt worden, in Subsahara Afrika, und die war zu 100% wirksam. Also keine einzige Studienteilnehmerin hat sich unter Lenacapavir mit HIV angesteckt.
In der Purpose 2 Studie sind dann noch andere Menschen mit eingeschlossen worden und zwar waren das Cis-Gender Männer und Trans-Gender Männer und Trans-Gender Frauen ab 16 Jahren die Sex mit männlichen Partnern haben. Und hier sind die Ergebnisse fast gleich, muss man sagen, also fast zu 99,9% wirksam zum Schutz vor einer HIV-Infektion.
Eine endgültige Lösung bietet das Medikament aber noch nicht
SWR: Eine Impfung gibt es ja noch nicht, aber ist Lenacapavir zumindest ein Stück weit ein möglicher Ansatz?
Lehmann: Das werde ich häufig gefragt. Ich denke nicht. Das ist eher etwas strategisches. Also grundsätzlich glaube ich, haben wir aber jetzt akut die Möglichkeit, die HIV-Epidemie zu kontrollieren, dadurch, dass wir Lenacapavir als Präexpositionsprophylaxe (PrEP) - als Schutz- einsetzen.
Perspektivisch wäre es dann sehr, sehr wünschenswert, dass wir zum Beispiel im Kindesalter eine Impfung oder auch mehrere Impfungen bekommen, die dazu führen, dass man für sein ganzes Leben geschützt ist und nicht alle sechs Monate eine Spritze bekommt.
Also es ist nicht so, dass Impfungen dadurch ersetzt werden können, sondern ich glaube, das ist eine gute Brücke, bis wir hoffentlich dann irgendwann wirksame Impfstoffe haben.
Es gibt bereits Prophylaxe-Medikamente, die vor Aids schützen können
SWR: Es gibt ja auch schon gängige Mittel wie Truvada, die man zur Prophylaxe schlucken kann. Da vergessen aber die Nutzer oftmals die tägliche Tablette, wodurch die Schutzwirkung sinkt. Ist dieses Mittel damit jetzt überholt?
Lehmann: Das kann man so nicht sagen. Es gibt schon auch ein Problem des Preises, das sind ja viele Aspekte die zusammenkommen. Aktuell sind die Kosten von Lenacapavir für ein Jahr ungefähr 40.000 US-Dollar. Während dieses generische Truvada, diese Tablette die man täglich einnehmen kann, zum Beispiel in Südafrika $50 pro Jahr kostet.
Also das heißt, wenn wir das Lenacapavir auch wirklich flächendeckend einsetzen wollen, dann muss definitiv eine generische Variante, eine Generika-Herstellung beziehungsweise ein Programm dafür dann auch aufgebaut werden, damit das auch wirklich gut eingesetzt werden kann.
Wie häufig man die Spritze erhalten muss, ist noch unklar
SWR: Wie sieht es denn aus mit Gewöhnungseffekten? Also wenn man das jetzt regelmäßig gespritzt bekäme, sind da Resistenzen zu befürchten, zu erwarten?
Lehmann: Das wird auch immer sehr viel diskutiert. Also die Gefahr besteht natürlich, dass wenn man nicht zeitgerecht die nächste Spritze erhält, dass dann die Wirkspiegel im Blut und in den Schleimhäuten abfallen und in diesen Situationen können Resistenzen entstehen. Das heißt, man muss sehr an diesen Zeiten festhalten. Und wir wissen noch nicht genau wie häufig das dann sein wird.
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Bei einem brasilianischen Aids-Patienten sind angeblich auch ohne Medikamente seit einem Jahr keine Antikörper gegen HIV mehr nachweisbar. Ist das ein Durchbruch im Kampf gegen Aids?
Das neue Aids-Medikament ist zwar zugelassen, aber in Deutschland noch nicht erhältlich
SWR: Wir haben ja gerade schon über den Preis gesprochen, aber wie sieht es denn in Deutschland aus? Also können Ärzte hier das Mittel schon verordnen?
Lehmann: Nein, es ist zwar in Europa von der EMA zugelassen als Behandlung, also zur Therapie wenn man bereits eine HIV-Infektion hat, aber in Deutschland eigentlich nicht erhältlich. Als Prophylaxe ist es bislang auch noch gar nicht zugelassen, das heißt: wir haben das noch gar nicht zur Verfügung.
Die Zulassung wird jetzt, denke ich, im Januar eingeleitet werden, nachdem jetzt auch die Daten von dieser Purpose Two Studie veröffentlicht worden sind. Das heißt, ich könnte mir vorstellen, dass es relativ zügig gehen wird, weil die Ergebnisse ganz eindeutig sind.
Aber da muss man eben auch unterscheiden, zwischen: Ein Medikament ist zugelassen, man kann es auch einsetzen, aber das heißt nicht unbedingt, dass das Medikament dann auch verfügbar ist in den unterschiedlichen Gesundheitssystemen. Der Preis ist zum aktuellen Zeitpunkt sehr hoch und das kann man dann nicht als Prophylaxe einsetzen.