Atomkraft-Schild vor ukrainischer Flagge (Foto: IMAGO, IMAGO / Steinach)

Ukrainekrieg

So hilft das KIT der Ukraine, sich auf den nuklearen Ernstfall vorzubereiten

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Ralf Caspary
INTERVIEW
Wolfgang Raskob
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Leila Boucheligua, Antonia Weise

Als das Kernkraftwerk Saporischschja in der Ukraine Teil des Kriegsgeschehens wurde, war die Angst vor einer nuklearen Katastrophe groß. Unterstützung bei der Vorbereitung für den nuklearen Ernstfall erhält die Ukraine vom Karlsruher Institut für Technologie.

Heute, vor einem Jahr, hat der russische Angriffskrieg in der Ukraine begonnen. Ein Ziel der brutalen Angriffe der Russen ist auch die Infrastruktur des Landes, wie zum Beispiel Kernkraftwerke. Neben dem Leid, Tod und Kriegsschrecken ist so auch das Risiko eines nuklearen Unfalls dramatisch gestiegen. Im Fokus der Angriffe stand und steht immer wieder das größte AKW Europas: Das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja, das in russischer Hand sein soll.

SWR2 Impuls hat über diese Problematik mit Wolfgang Raskob gesprochen. Er ist der ehemalige Leiter des Instituts für thermische Energietechnik und Sicherheit am KIT, dem Karlsruher Institut für Technologie, das der Ukraine dabei hilft, sich auf einen nuklearen Ernstfall vorzubereiten.

Kann man abschätzen, wie groß die derzeitige Gefahr eines nuklearen Ernstfalls in der Ukraine ist?

Wolfgang Raskob: Das ist sehr schwierig abzuschätzen. Also, ich denke für Saporischja ist es inzwischen relativ gering, weil alle Blöcke entweder abgeschaltet oder heruntergefahren sind. Das heißt, dort läuft kein einziges Kraftwerk mehr. In anderen Standorten ist das natürlich anders.

Wie viele AKWs gibt es in der Ukraine insgesamt?

Raskob: Insgesamt 15. Sechs waren ja in Saporischja und dann gibt es noch drei andere Standorte.

Fahren die Russen noch die Strategie, auch diese Infrastruktur zu treffen?

Raskob: Ich bin relativ sicher, dass sie das weitermachen werden. Ich meine auch, wenn jetzt vielleicht der Frühling irgendwann anfängt, Stromversorgung ist notwendig, um überhaupt die Infrastruktur, die Bevölkerung zu versorgen. Also diese Dinge sind extrem wichtig für die Ukraine. Und deswegen ist es natürlich ein Kriegsziel der Russen, so etwas zu unterbinden.

Und wie helfen Sie nun konkret den Ukrainern?

Raskob: Wir haben nach Tschernobyl ein System entwickelt, das sozusagen den Entscheider unterstützt, die Konsequenzen von einem solchen Unfall möglichst gering zu halten. Also muss ich evakuieren, den Auszug von Häusern empfehlen, die Verteilung von Jodtabletten. Dieses System ist auch in der Ukraine installiert und wir tauschen Rechnungen mit den Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine aus.

Kühltürme des Atomkraftwerks in Saporischja (Foto: IMAGO, IMAGO / NurPhoto)
Im Fokus der russischen Angriffe in der Ukraine war immer wieder das größte AKW Europas: Das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja, das unter russischer Kontrolle sein soll und laut seinem Betreiber seit September 2022 gänzlich abgeschaltet ist.

Was ist das für ein System? Ist das ein digitales System, ein Vorhersagesysteme? Wie hat man sich das vorzustellen?

Raskob: Ja, das ist ein Vorhersagesystem, das verschiedene Module enthält. Zum Beispiel atmosphärische Ausbreitung. Ausbreitung in Flusssystemen, Nahrungsketten, Modellierungen, Konsequenzen-Modellierungen. Das ist relativ komplex und deswegen benötigt es auch eine gute Bedienung. Das heißt, die Leute müssen geschult sein und auch fit in der Bedienung. Und das sind Dinge, in denen wir die Ukraine unterstützen.

Das heißt, Sie sind im engen Kontakt mit Forschenden oder AKW-Betreibern in der Ukraine?

Raskob: Genau, das System ist sowohl in der Aufsichtsbehörde installiert, bei den Kernkraftwerken als auch bei den Notfallschutzzentralen. Und wir tauschen uns ein Mal am Tag mit denen aus. Also wir rechnen für jeden der Standorte einen potenziellen Unfall und vergleichen das auch mit den Rechnungen, die dort durchgeführt werden, und auch mit japanischen Rechnungen.

Das heißt, sie können sagen, wenn Kernkraftwerk XY beschädigt wird, dann passiert dieses und jenes?  

Raskob: Genau, wir haben sozusagen alle Kernkraftwerke weltweit in dem System. Dann haben wir von ukrainischen Kollegen einen Quellterm bekommen für einen schweren Störfall. Also, wenn jetzt wirklich der Strom komplett ausfällt, bricht eine Leitung. Und diesen Quellterm rechnen wir als „Was wäre wenn… Szenario“ jede Stunde durch. 

Was ist ein Quellterm? 

Raskob: Die Freisetzung der Radionuklide in die Umgebung. Das, was sozusagen aus dem Reaktor herausquillt. 

Und das rechnen Sie dann pro Stunde aus?

Raskob: Ja genau, wir rechnen das für jede Stunde aus. Wir nehmen also diesen Quellterm, diese Freisetzung, nehmen das aktuelle Wetter, die Prognose für die nächsten 48 Stunden und rechnen damit unter anderem aus: Wohin zieht die Fahne? Was wären die Konsequenzen für die Bevölkerung vor Ort? Und wie weit wären die Konsequenzen? Zum Beispiel ist hier in Deutschland auch ein Risiko da oder nicht? 

Dieses Tool, welches sie mit mit Kollegen und Kolleginnen entwickelt haben, müsste sich ja auch auf die Stärke der Beschädigung beziehen, oder? 

Raskob: Da haben Sie vollkommen recht. Da dies ja nur „Was wäre, wenn…Szenarien“ sind und es uns hauptsächlich darum geht, zu zeigen, wohin die Fahne zieht, haben wir natürlich einen einhüllenden Quellterm genommen. Das heißt, einen möglichst großen, um abdeckend zu agieren. 

Hochinteressant und hochkomplex. Vor allen Dingen, wenn sie das Stunde für Stunde ausrechnen müssen. Sie müssen ja viele Mitarbeitende haben, oder? 

Raskob: Das geht automatisch. Das System ist so designed, dass sich das sozusagen automatisch mit demselben Quellterm, mit dem Wetter, welches wir alle sechs Stunden herunterladen, automatisch Rechnungen durchführen lässt. Und dann schauen wir uns zu gegebenen Zeiten die Ergebnisse an. Einmal am Tag gucken wir und tauschen das mit den Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine aus. 

Haben Sie eigentlich in diesem System auch Daten eingespeist von Fukushima, um neue Erfahrungswerte einzubauen? 

Raskob: Ja, wir haben auch für Fukushima gerechnet. Wir haben auch noch mal Nachrechnungen durchgeführt und getestet, inwieweit die gemessenen Daten aus unserer Rechnung mit den gemessenen Daten von dort übereinstimmt. Und das war relativ gut. Da bin ich doch stolz darauf, was das System so leistet. 

Er klingt sehr interessant, aber wir hoffen nicht, dass das wirklich irgendwann mal real zum Einsatz kommen muss.

Raskob: Das hoffen wir alle. Aber ich denke, es ist wichtig vorbereitet zu sein. 

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