Musikstück der Woche vom 02.02.2015

Zerstreut

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AUTOR/IN
Katharina Höhne

Joseph Haydn: Sinfonie Nr. 60 C-Dur, Hob I:60

Die Schlüssel, das Handy, die Einkaufsliste – es gibt wohl kaum jemanden, der nicht mal etwas vergisst. Leander jedoch, der Protagonist der französischen Komödie "Le Distrat" (zu Deutsch: Der Zerstreute), muss sich sogar einen Knoten ins Taschentusch binden, um nicht seine eigene Hochzeit zu verpassen. Joseph Haydn schrieb 1774 die Schauspielmusik dazu und machte später eine Sinfonie daraus. Die Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern hat das Werk unter der estnischen Dirigentin Kristiina Poska beim Konzert im SWR-Studio Kaiserslautern am 24.05.2012 gespielt.

Joseph Haydn
Joseph Haydn

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Joseph Haydn war ein unersättlicher Komponist. Über 100 Sinfonien hat er in seinem Leben geschrieben. Die meisten davon wurden äußerst populär, wie die Sinfonie mit dem Paukenschlag. Zeitlebens überzeugte der Komponist durch Witz und Originalität, obwohl er als Kapellmeister am Hof der wohlhabenden österreichisch-ungarischen Familie Esterházy oft an den Gustos seiner Auftraggeber gebunden war. Diesen empfand Haydn meist als furchtbar oberflächlich. 

Verliebt, verstrickt, verheiratet

Die Sinfonie Nr. 60 bildet eine Ausnahme ins Haydns Schaffen als Sinfoniker, da sie eigentlich gar keine Sinfonie im klassischen Sinne ist sondern auf der Musik zum Schauspiel "Le Distrat" basiert, einer Komödie des französischen Dichters Jean-Francois Regnard. Es ist eine typische Verwechslungskomödie, wie sie zu Haydns Zeit sehr beliebt war. In dessen Mittelpunkt steht Leander, der Zerstreute. Der junge Mann ist ein ausgeprägter Träumer, schusselig und kopflos. Er vergisst nicht nur die Welt um sich herum sondern auch gut und gern sich selbst. Trotzdem hat er etwas, das Madame Grognac begeistert. Sie möchte nämlich, dass er ihre Tochter Isabelle heiratet. Dummerweise hat sich Isabelle schon anderweitig verliebt, genau wie Leander. Isabelle liebt Chevalier, einen gut aussehenden Lebemann, Leander dessen Schwester Clarice. Und genau hier beginnen die Verstrickungen, die Haydn äußerst originell in seiner Musik aufgreift. Haydn lässt die konträrsten Elemente aufeinanderprallen, Forte und Piano, Moll und Dur etc., dazu arbeitet er mit Stockungen und motivische wie rhythmische Rückungen. Er lässt nichts aus und kreiert damit einen seiner überraschungsreichsten Coups. Mit seiner Musik begeisterte er damals das Publikum, auch wenn er sie später nur noch als "alten Schmarn" abtat, für den er sich längst schämte. 

Übrigens: Haydn, der die Form der Sinfonie als ein viersätziges Werk entscheidend prägte, verstieß mit seinem Orchesterwerk gegen alle Regeln der Kunst. Es besteht nämlich nicht aus vier sondern sechs Sätzen: Seiner Schauspielmusik entlieh er die Ouvertüre, vier Zwischenmusiken und das Finale. Dazu tauschte er die von ihm erfolgreich praktizierte Sonatenhauptsatzform gegen die Ouvertüre des Schauspiels ein, in der alle Protagonisten und Handlungsimpulse erstmals vorgestellt werden. 

Kristiina Poska

Geborgen in Türi, im Herzen von Estland, studierte Kristiina zunächst Chordirigieren an der Estnischen Musikakademie Tallinn, ab 2004 dann Orchesterdirigieren an der Hochschule für Musik "Hanns Eisler". Fünf Jahre (2006 bis 2011) leitete sie die "Cappella academica", des Symphonieorchesters der Humboldt-Universität zu Berlin und fing an als Gastdirigentin mit Orchestern in ganz Europa zusammenzuarbeiten, u.a. mit den Stuttgarter Philharmonikern, der Camerata Salzburg, dem Orchestre de Chambre de Lausanne und den Göteborgs Symfonikern. Sie ist Stipendiatin des Dirigentenforums des Deutschen Musikrats und wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Deutschen Dirigentenpreis (2013).

Poska hat sich zu einer engagierten Opern- und Operettendirigentin entwickelt und gastierte bereits erfolgreich in verschiedenen Theatern. Seit der Spielzeit 2012/13 ist die Dirigentin Erste Kapellmeisterin an der Komischen Oper Berlin. 

Die Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern

Die Deutsche Radio Philharmonie ist das jüngste deutsche Rundfunk-Sinfonieorchester. 2007 aus der Fusion der beiden traditionsreichen ARD-Klangkörper, dem Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken (SR) und dem Rundfunkorchester Kaiserslautern (SWR) entstanden, hat das Orchester in kürzester Zeit ein eigenes Profil gewonnen und sich seinen Platz unter den renommierten deutschen Rundfunkorchestern erspielt. Programmschwerpunkte bilden neben dem Vokalbereich das klassisch-romantische Repertoire sowie die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Auftragskompositionen erweitern das Repertoire. Chefdirigent ist seit der Spielzeit 2011/12 der Brite Karel Mark Chichon.

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Katharina Höhne