Das Boston Symphony Orchestra unter der Leitung von Andris Nelsons

3. Teil der Schostakowitsch-Gesamteinspielung

Stand
AUTOR/IN
Eleonore Büning
KÜNSTLER/IN
Boston Symphony Orchestra

CD-Tipp vom 23.9.2018

Ende des Sommers, Herbstanfang. Die Festivals sind vorbei, die Saison hat gerade begonnen. Das ist die Zeit, in der die großen Orchester der Welt am liebsten auf Tournee gehen. Das Boston Symphony Orchestra ist gerade wieder nach Hause gefahren – ein altes, amerikanisches Orchester mit deutsch-französischen Wurzeln. Die ersten Chefdirigenten hießen Nikisch und Muck, Charles Münch und Pierre Monteux. Jetzt, auf ihrer zweiten Europatournee unter dem neuen Chefdirigenten Andris Nelsons, hatten die Musiker aus Boston hauptsächlich Mahler und Schostakowitsch im Gepäck. Das nenne ich „Eulen nach Athen tragen“! Und fast zeitgleich kam ihre neue Doppel-CD heraus, mit der 4. und der 11. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch – dritte Lieferung einer neuen Gesamteinspielung aller Schostakowitsch-Symphonien.

Ja, gibt es nicht schon Regalmeter voll mit Schostakowitsch-CDs? Gibt es nicht reichlich Referenzaufnahmen, etwa von Mariss Jansons oder Kyrill Kondraschin? Ist schon wieder eine Neuaufnahme sämtlicher Schostakowitsch-Symphonien nötig? Die Antwort lautet, kurz und bündig: Ja. Der Grund ist zu hören beim direkten Vergleich zweier Aufnahmen des Finalsatzes aus der 4. Symphonie c-Moll op. 43.

Kyrill Kondraschin dirigierte die Dresdner Staatskapelle, eine legendäre Aufnahme aus dem Jahr 1963. Selbst wenn man das bisschen aufnahmetechnische Patina abzieht, sind die Unterschiede zwischen Kondraschins Lesart und der von Andris Nelsons mit Händen zu greifen. Was man zunächst sofort hört (oder zu hören glaubt): Nelsons ist langsamer als Kondraschin. Das stimmt. Insgesamt, auf den ganzen Satz gerechnet, geht es um 4 Minuten.

Paradigmenwechsel in der Schostakowitsch-Rezeption

Andere Parameter sind jedoch hier viel wichtiger als das Tempo, nämlich der Umgang mit Metrik, Akzent und Phrasierung. Der durchgehende Puls dieser langsamen Largo-Einleitung wurde von Kondraschin von Anfang an wie ein Marschrhythmus aufgefasst. Der läuft mechanisch durch, quasi im Stechschritt. Die Holzbläser müssen sich dem fügen. Bei Nelsons ist es genau umgekehrt: Hier haben die Melodieinstrumente das Sagen. Und sie singen sich subjektiv aus, in individueller Klangrede: erst das tiefe Fagott, dann die Bassklarinette, die Oboe, schließlich die Flöte. Und der durchgehende Puls ist zunächst organisch, wie ein Herzschlag, er steigert sich erst nach und nach. Und wenn dann am Ende das Orchester im Tutti losmarschiert, ist die Wirkung bei Nelsons, der diese Spannung dynamisch langsam aufbaut, ganz ungeheuerlich. Eine schockierend neue Sicht der Dinge! Ein Paradigmenwechsel in der Schostakowitsch-Rezeption!

Man sollte, sagt Nelsons:

Das (sei ihm) sehr wichtig! Er wolle:

Ja, sehr russisch sind nicht nur die vielen Volksmelodien, die in den Symphonien von Schostakowitsch zu finden sind. Sehr russisch ist auch der feine, schwarze Trauerrand, diese besondere Schmerzempfindsamkeit, die schon bei Tschaikowsky vorkommt und die man außerhalb Russlands als sentimental empfindet. Und sehr russisch sind auch überschwappende Emotionen wie extreme Kontraste, dynamische Steigerungen, Blechgewalt und lärmende Pracht.  

Diese Worte legte der britische Autor Julian Barnes seiner Romanfigur Dmitri Schostakowitsch in den Mund, im letzten Kapitel seines Bestsellers „Der Lärm der Zeit“. Wir sind zwar noch ziemlich weit entfernt davon, dass der Faschismus eine historische Fußnote ist. Doch den Soundtrack zum Buch von Barnes, den gibt es schon. Verlegt wird dieses Doppelalbum, das außer der Vierten auch noch die Elfte in neuer Lesart präsentiert, vom Label Deutsche Grammophon. 

CD-Tipp vom 23.9.2018 aus der Sendung Treffpunkt-Klassik - Neue CDs

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AUTOR/IN
Eleonore Büning
KÜNSTLER/IN
Boston Symphony Orchestra