Donaueschinger Musiktage 1999 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 1999: "Totodonaueschingen"

Stand
AUTOR/IN
Alvin Curran, aus dem Amerikanischen: Lydia Jeschke

Alvin Curran

Wenn Beethoven anruft, ist das immer ein großes Ereignis – er benutzt das Telefon fast nie: "Alvin, meine E-Mail ist schon seit 48 Stunden down, und ich wollte dir doch sagen, wie stolz ich bin – du wirst es nicht glauben, gerade habe ich den Siemens Preis, den Tokyo Preis und den MacArthur Genius Award erhalten: alle in einer Woche. Breitkopf und Bertelsmann können sich wirklich freuen, nicht? Und dann noch Cage siebenmal im Schach geschlagen. Wie auch immer – wie ist es bei dir, wie geht es vorwärts mit Donaueschingen??? Ihr Komponisten alle, mit euren verdrehten Trümmern, die ihr Musik nennt."

"Es ist alles Arnolds Schuld", platzte ich hinein. "Arnold wer?... oh, dieser mürrische Kerl, der den ganzen Tag dasitzt und sein eigenes Portrait malt...? er denkt, alle Töne sind gleich – sogar Sokrates war da klüger." "Nun, das ist es, was ich gerade in meinen Programmnotizen schreibe... Ich lese dir eben kurz daraus vor:

Der "Hyde" in mir schreibt peinlich genau geschliffene musikalische Strukturen, einfach und direkt, lyrisch oder zerreißend, beeinflusst durch den Blues, Berg, die Vögel. Inzwischen schreibt der "Jeckyl" in mir für die Klänge einer ganzen Meeresküste oder radiophone Geografien für Millionen von menschlichen Stimmen, die aus in der Erde vergrabenen Lautsprechern dringen. Musik, in der Ordnung und Chaos untrennbar miteinander verschmolzen sind wie in einem großen Gebäude, das man vor und nach einem vernichtenden Erdbeben sieht; Momente und Musiken, in denen Zufall, Glück und Schicksal Form und Inhalt irrelevant machen. Musik als ein permanenter Ausnahmezustand, wo David Tudors musikalische Vision das Wort "experimentell" genauso akzeptabel klingen ließe wie jede Flughafen-Wartehalle und auch ebenso beunruhigend.

Totodonaueschingen ist Jeckyl, ist experimentell, ist herausfordernd, liebevoll, kollektiv, nichtintentional, global, unkenntlich. Männer, Frauen und Kinder im musikalischen Krieg mit Maschinen und archivierten Erinnerungen. Laparoskopisches Eingreifen, um die Größe der klanglichen Bösartigkeiten auf ihr Atomgewicht zu reduzieren. Fasten und Saufen bei einem fortdauernden Gelage solider gleichschwebender Stimmungen. Sich unsichtbar bewegende Musikstücke, so wie Maradona den Fußball bewegt, wie Satie Möbel bewegt, wie Astronauten im Raum ihre Gedärme bewegen... Ludwig, bist du noch da? hast du verstanden, wovon ich spreche? "Kein Wort." Dann hast du alles verstanden.

Alles, was die Quellen und die Bedingungen von TDE umgibt, strömt einen Hauch von Unmöglichkeit aus. Die bloße Idee, das gesamte akustische Archivmaterial des Donaueschinger Festivals zu nehmen und es als kompositorische Quelle zu benutzen, ist ebensowenig ratsam wie der Versuch, mit den aktiven Brennstäben eines Atomkraftwerks Musik zu machen. Auf der anderen Seite machte die Zusammenarbeit mit den brillianten Köpfen Nicola Bernardini und Domenico Sciajno möglich, was ansonsten ein unmögliches musikalisches Ereignis gewesen wäre. Und schließlich wurde die unwahrscheinliche Idee – enthusiastisch verfolgt von Armin Köhler und freundlich bewilligt vom Fürstenhaus zu Fürstenberg -, nämlich die Fassade des Schlosses als ein Theater der Klangarchitektur zu nutzen, indem verborgene Lautsprecher in verschiedene Fenster eingepasst werden sollten, 'per motivi tecnici' unausführbar. Statt dass also das Schloss sich selbst in ein Musikinstrument verwandelt, erklingt die Musik nun durch 16 Laufsprecher am und um das Schloss.

Zentral ist bei all dem die Entscheidung, eine undenkbare Menge bekannter Musik zu transformieren und zu re-repräsentieren, eine Musik, die selbst mehr als ein halbes Jahrhundert eines extraordinären musikalischen Körpers in seiner Entwicklung repräsentiert – ein Körper, den die Leute mit leidenschaftlichem Engagement umarmten oder vor dem sie in Entsetzen flohen. Ein Körper der Musik, der ein fester Felsen ist, jedoch unsichtbar; produziert in beinahe jedem Winkel dieses Planeten, doch leider – außer für ein paar wenige Leute – unhörbar; und ein fraglos großer ökonomischer Luxus, wenn nicht bald eine ökonomische Katastrophe. Sagen wir also, dass TDE für mich eine persönliche Hommage an diese großartige Musik bedeutet, an ihre Autoren und eins ihrer führenden Produktionszentren.

Während dieser Akt medialer Annäherung mit dem größten Respekt für die Autoren und ihre Werke ausgetragen wird, ist sein essentielles Anliegen, alle diese organisierten Klangfrequenzen und Vibrationen in einen globalen Brunnen zu gießen, aus dem beständig Samples genommen werden. Dabei soll stets darauf geachtet werden, dass nicht bestimmte Individuen oder Kompositionen zu bevorzugt oder die Quellen der Samples offengelegt werden (wenngleich das gelegentlich geschehen kann). Weit entfernt von der modernistischen Idee der Collage oder modischen postmodernen Ironien liegen die Wurzeln dieser Arbeit bei Ives, Cage, Cecil Taylor, David Tudor und meinen eigenen fortlaufenden Studien in Bereichen hoher musikalischer Gefahr und der konsequenten Suche nach musikalischen Formen im weitesten Sinne dieses Wortes.

Und hier in aller Kürze, was technisch passiert: 30 Sekunden Musik werden aus dem Anfang, der Mitte und dem Ende einer breiten und unterschiedlich selektierten Anzahl musikalischer Werke, die in den letzten mehr als 70 Jahren durch das Festival in Auftrag gegeben wurden, ausgewählt. Alle diese musikalischen Fragmente werden in Form von acht simultanen digitalen Strömen bereitgestellt. Computer Nr. 1 (ein PC mit Linux OS und laufendem CSound) wählt eine Untergruppe von ein bis acht dieser Ströme zur Ausarbeitung aus, in Zyklen (Zeitblöcken), die zwischen alle 15 Sekunden und alle 7 Minuten stattfinden. Auf jeden ausgewählten Strom wird einer von zehn Verarbeitungstypen angewandt, wobei alle Typen auf extremen transformativen Typologien basieren. Die transformierten Ströme werden dann an den zweiten Computer (ein MAC G3 mit laufendem MAX/MSP) weitergegeben, der dann wieder das Material der ersten Maschine mit ein bis zehn anderen Transformationen bearbeitet.

Alle diese Selektionen und mehrfachen Prozesse werden duch ein komplexes System aus Zufallsoperationen und gewichteten Wahrscheinlichkeiten gesteuert, welche den "unkenntlichen” und unlogischen Charakter des Systems ausnutzen und vergrößern - so kann das System zeitweise so wirken, als folge es den konventionellen musikalischen Regeln, und in anderen Phasen wie ein gestörtes Kind erscheinen, dem jeder Gedanke an "gutes musikalisches Benehmen”, was immer das sei, abgeht. Die Maschinen besitzen natürlich keinerlei Kenntnis von oder Sensibilität gegenüber den musikalischen Quellen. Sie tun nur, was ihnen gesagt wird, und nehmen, womit wir sie füttern, als wäre es ein und derselbe lebenserhaltende Stoff: Luft, Wasser und Musik, die so unverzichtbar sind für unser eigenes menschliches Überleben...

"Ludwig - bis du noch da???” "Ja. Ja. [im Original deutsch] aber ich muss los zu einem Improvisationswettkampf mit Scelsi, wie ein Duell - wir dürfen jeder nur eine Note spielen. Schön, nicht?? - sende dir bald eine E-Mail. Bis bald.”

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Alvin Curran, aus dem Amerikanischen: Lydia Jeschke