Ersatz für den Klavierstimmer?

Der Entropie-Piano-Tuner

Stand
AUTOR/IN
Martin Roth

Elektronische Geräte und Software zum Stimmen von Klavieren gibt es viele auf dem Markt. Doch mit professionellen menschlichen Stimmern konnten diese bisher nicht konkurrieren. Jetzt haben zwei Physiker von der Universität Würzburg eine Software entwickelt, von der beispielsweise der "Daily Mail" oder das "Wall Street Journal" behaupten, dass sie Klavierstimmer arbeitslos machen würde: Die Software mit dem Namen "Entropie-Piano-Tuner" haben die Physiker kostenfrei im Internet zur Verfügung gestellt. Die Nachfrage nach der Software ist überraschend groß: Allein von der Android-Version gibt es inzwischen weltweit über 5.000 aktive Installationen. Martin Roth hat die Stimmsoftware an seinem Klavier getestet.

Klavierstimmen – was ist so schwierig daran?

Höchste Zeit, mein Klavier wieder einmal zu stimmen. Aber was macht das Stimmen eines Klaviers eigentlich so schwer? Selbst wenn ich nur versuche, es gleichstufig zu stimmen, also so, dass die Halbtonschritte alle gleich groß sind? Jeder, der das schon einmal mit einem normalen, handelsüblichen Stimmgerät oder einer entsprechenden Stimm-App probiert hat, wird vom Resultat frustriert sein.Was bei einer Gitarre ziemlich gut funktioniert, beim Klavier kann man‘s vergessen. 

Der Grund: die sogenannte "Inharmonizität" der Klaviersaiten. Das heißt: die Obertöne der Stahlsaiten des Klaviers verhalten sich nicht wie die Obertöne einer idealen Saite. Ihre Frequenzen sind keine ganzzahligen Vielfachen des Grundtons. Stattdessen ist die Obertonreihe ein wenig auseinandergedrückt, das heißt, die Obertöne sind alle etwas zu hoch. Die Kunst des Klavierstimmens besteht nun darin, diesen Effekt soweit wie möglich auszugleichen. Doch was heißt das in der Praxis? Die tiefen Töne des Klaviers werden etwas abgesenkt, also etwas zu tief gestimmt, die höheren Töne etwas zu hoch. Man spricht von einer "Spreizung" der Stimmkurve.

Ob Mensch oder Flügel - jeder ist anders

Dumm nur, dass der Effekt der Inharmonizität und damit die notwendige Spreizung von vielen Faktoren abhängt. Jedes Klavier, jeder Flügel verhält sich da nämlich anders. Professionelle Stimmgeräte können zwar die Inharmonizität der Klaviersaiten berücksichtigen und bieten auch unterschiedliche Stimmkurven an, die wiederum auf verschiedenen Spreizungen beruhen. Doch konkret ist das für ein Instrument immer nur annähernd optimal.

Kleine Entropie, alles in Ordnung

Hier setzt nun die Stimmsoftware der Physiker von der Universität Würzburg an: der Entropie-Piano-Tuner. Ihm liegt eine völlig neue – meiner Ansicht nach – geniale Idee zugrunde, indem sie nämlich die Stimmung eines Klaviers mit dem physikalischen Begriff der Entropie in Verbindung bringen. Vereinfacht ausgedrückt ist die Entropie ein Maß für Unordnung. Große Entropie – große Unordnung, kleine Entropie – wenig Unordnung, um nicht zu sagen: dann herrscht Ordnung. Als Eiswürfel sind Wassermoleküle beispielsweise in einer gewissen Ordnung, die Entropie ist klein. Schmilzt der Eiswürfel, geht diese Ordnung verloren, die Entropie ist größer geworden.

Auf das Klavier übertragen heißt das nun: Das Instruments ist dann gut gestimmt, wenn im Obertonspektrum Ordnung herrscht, die Oktaven zum Beispiel gut zueinander passen. Dann ist die Entropie klein. Umgekehrt, wenn im Obertonspektrum ein Durcheinander herrschen würde, wäre die Entropie groß, aber auf diesem Klavier würde ich dann lieber nicht spielen wollen…

Der Entropie-Piano-Tuner im Test

Der Entropie-Piano-Tuner macht nichts anderes, als die Töne so zu korrigieren, dass die Gesamtentropie aller 88 Klaviertöne minimal wird. Und das funktioniert in der Praxis folgendermaßen:

Ich habe mir den Entropie-Piano-Tuner auf meinem Laptop installiert - es gibt die Software übrigens auch als App für Tablets oder Smartphones; iPhones und Androids. Wegen der Möglichkeit, sich verschiedene Grafiken gleichzeitig anzeigen zu lassen, habe ich mich für den Laptop entschieden. Daran habe ich nun ein externes Mikrofon angeschlossen, um die Klaviertöne mit hoher Qualität aufnehmen zu können.

Erster Schritt: das Kennenlernen 

Zunächst muss die Software mein Klavier erst einmal kennenlernen. Ich spiele jeden Ton einzeln ein, von links nach rechts, vom tiefsten bis zum höchsten Ton.Das geht schon mal gut 20 Minuten, aber: das muss ich auch nur beim ersten Mal machen, zukünftig "kennt" die Software mein Klavier dann schon.

Das Ergebnis des Einspielens wird mir als zwei Grafiken dargestellt: erstens die einzelnen Töne und deren Abweichung von einer mathematischen gleichtemperierten Stimmung, und zweitens in Form einer Kurve, die die Inharmonizität meines Klaviers anzeigt.

Algorithmen schaffen Ordnung

Nun geschieht das Entscheidende: ich wechsle in den Berechnungsmodus. Mithilfe eines einfachen Versuch-und-Irrtum-Algorithmus verändert die Software zufällig ausgesuchte Töne in eine Richtung und überprüft dann, ob sich die Gesamtentropie des Klaviers dadurch verkleinert oder vergrößert. Verkleinert sie sich, wird dieser Stimmungszustand zunächst beibehalten und der nächste Ton kommt dran. Dieser Vorgang könnte nun theoretisch unendlich lange andauern. Doch die Stimmkurve, die sich hieraus ergibt, hat sich bei mir nach ungefähr einer halben Minute nicht weiter verändert. So konnte ich den Berechnungsvorgang abbrechen.

Über ein MIDI-Klavier hätte ich mir schon zu diesem Zeitpunkt die theoretisch berechnete Stimmung meines Klaviers anhören und gegebenenfalls sogar einzelne Töne noch nachkorrigieren können, sollte ich unzufrieden sein. Darauf habe ich aber verzichtet und stattdessen gleich mit dem Übertragen der Stimmkurve auf mein Klavier begonnen, also mit dem eigentlichen Klavierstimmen.

Visuelles Feedback für korrekte Tonhöhe

Hier bietet der Entropie-Piano-Tuner gleich drei verschiedene Anzeigen für die Tonhöhe an. Besonders hilfreich war für mich eine Stroboskopanzeige, die es mir durch farbige Interferenzmuster sehr leicht gemacht hat, die richtige Tonhöhe zu erkennen. Gerade im Bass- und Diskantbereich, wo die Anzeigen der meisten Stimmgeräte versagen, war das sehr komfortabel. So konnte ich den Stimmvorgang nach nur eineinhalb Stunden erfolgreich beenden.

Mittüfteln ausdrücklich erwünscht

Übrigens: die Entwickler von der Uni Würzburg selbst gestehen ein, dass ihr "entropiebasiertes Verfahren zwar akzeptable, jedoch für professionelle Maßstäbe noch keine perfekten Ergebnisse produziert". Sie stünden ja schließlich auch erst am Anfang einer Entwicklung. Deshalb haben sie den Entropie-Piano-Tuner auch bewusst als quelloffene Software konzipiert, an deren Optimierung jeder mitwirken kann. Sei's drum! Mein Klavier und ich – wir sind mit dem Stimmergebnis sehr zufrieden. Und bestimmte Klangbereiche meines Klaviers, die mir bisher immer Probleme bereitet haben, sind durch den Entropie-Piano-Tuner sogar hörbar verbessert worden.

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Martin Roth