Buchkritik

Andrea Wulf – Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich

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AUTOR/IN
Ulrich Rüdenauer

Die deutsch-britische Autorin Andrea Wulf, die mit ihrer Biografie über Alexander von Humboldt einen Weltbestseller gelandet hat, wendet sich nun der Frühromantik zu – einer kurzen Phase um die Wende zum 19. Jahrhundert, als die Romantik noch unschuldig und frei von chauvinistischen Tönen war.

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Goethe war der Fixstern, um den alle planetengleich kreisten

Goethe war der Fixstern, um den die Kritiker, Übersetzer und Autoren Friedrich und August Wilhelm Schlegel planetengleich kreisten. Fichte revolutionierte das Denken, Novalis die Poesie. Das junge Genie Schelling überwand die Trennung von Individuum und Natur, Alexander von Humboldt wusste ohnehin alles über Fauna und Flora und die Beschaffenheit der Welt; sein Bruder Wilhelm drang in die Geheimnisse der Sprache ein wie kein zweiter vor ihm.

Hegel war ein Spätzünder, aber als sein erstes großes Werk erschien, machte es Furore. Schiller, so kränklich er auch war, konnte die jüngeren Dichter begeistern und nach Jena locken; er war aber nicht nur anfällig für Krankheiten, sondern auch leicht gekränkt – und bald lösten sich die Bande, seine ehemaligen Bewunderer wurden zu gehässigen Gegnern.

Der Jenaer Kreis war die Keimzelle der Romantik – Brutstätte einer neuen Auffassung des Ich und der Literatur

Dorothea Veit, Tochter von Moses Mendelssohn, war intellektuell und scharfzüngig und lebte in wilder Ehe mit Friedrich Schlegel. Caroline Böhmer-Schlegel-Schelling stand ihr an Klugheit in nichts nach; ihre Sympathien für die Französische Revolution brachten sie ins Gefängnis; sie schrieb und übersetzte mit ihrem zweiten Gatten August Wilhelm Schlegel die Shakespeare’schen Dramen und pflegte über Jahre hinweg eine von ihrem Mann geduldete, leidenschaftliche Affäre mit Schelling.

War Jena die Stadt, in der sich um das Jahr 1800 eine Eruption ereignete, so war Carolines Haus das Laboratorium, in dem die verschiedenen Bestandteile für diese epochenprägende Geistesexplosion zusammengemischt wurden. Ihr Salon wurde zum Mittelpunkt des Jenaer Kreises, der Keimzelle der Romantik – Brutstätte einer neuen Auffassung des Ich und der Literatur.

„Sie befreiten den Geist des Menschen aus dem Korsett der Doktrinen, Regeln und Erwartungen. Sie wurden als »Frühromantiker« bekannt. Tatsächlich waren sie die Ersten, die den Begriff »romantisch« in ihren Schriften verwendeten und die Romantik als internationale Bewegung einläuteten, indem sie ihr nicht nur einen Namen und ein Ziel gaben, sondern auch einen intellektuellen Rahmen.“
(Aus Andrea Wulf: Fabelhafte Rebellen)

Nicht, dass Andrea Wulf hier Neuland betreten würde: Tausende wissenschaftlicher Publikationen füllen die Regale Germanistischer Bibliotheken; Rüdiger Safranski versuchte sich vor einigen Jahren an einer Gesamtschau der Romantik und am politischen Begriff des Romantischen; und erst kürzlich reiste der Journalist Peter Neumann ins Jena des Jahres 1800 und erzählte launig von den Irrungen und Wirrungen der frühromantischen Kommune rund um die Schlegels.

Andrea Wulf wählt einen unterhaltsamen, erzählerischen Ansatz

Andrea Wulfs Buch richtet sich weder an die Wissenschaftsgemeinde noch an die Überbleibsel des klassischen Bildungsbürgertums. Sie wählt einen durchaus unterhaltsamen, erzählerischen Ansatz – und das gelingt ihr überzeugender und fundierter als Peter Neumann mit seiner munter-flockigen Darstellung.

Reiner Stach sprach einmal im Zusammenhang mit seiner herausragenden Kafka-Biographie von „historischer Empathie“, von der Einfühlung in die Zeit, mit der man sich beschäftigt. Diese methodische Beschreibung lässt sich gut auf Andrea Wulfs Arbeit übertragen. Sie zoomt von einem Panorama-Standpunkt aus immer näher an ihr Figurenensemble heran, streut wie nebenbei Details über die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe ein.

Fichte war in Jena der Star unter den Professoren, später stahl ihm Schelling die Schau

Zunächst wird der Blick auf Jena gerichtet, das um diese Zeit ein Städtchen mit gerade mal 4500 Einwohnern war. Die Universität aber hatte einen exzellenten, freigeistigen Ruf: 800 Studenten wurden davon angezogen. Fichte war der Star unter den Professoren, später stahl ihm Schelling die Schau. Sie belebten den Ort ungemein.

Nach und nach rückt Wulf die einzelnen Protagonisten ins Scheinwerferlicht, samt familiärer Verstrickungen. Bis sie schließlich alle in Jena versammelt sind, mit Cameo-Auftritten der Brüder Humboldt.

Die Französische Revolution trug man dabei im Herzen, Napoleon schwebte als Weltgeist vorbei. Aus etlichen Briefen, Tagebucheinträgen, zeitgenössischen Berichten schöpft Wulf ihre Kenntnisse, zeichnet den Alltag und das Zusammenleben einer Gruppe von Bilderstürmern nach, die Philosophie und Poesie grundlegend erneuern wollte.

Der Begriff des Romantischen taucht hier erstmals in einem emphatischen Sinne auf

Der Begriff des Romantischen taucht hier erstmals in einem emphatischen Sinne auf, und Novalis‘ berühmtes Diktum fasst wohl am besten zusammen, worum es den fabelhaften Rebellen ging:

„In dem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es.“

Wulf lässt uns fast unmittelbar teilhaben an den Dynamiken unter den Genies, an den Deutungs- und Machtkämpfen auf dem Feld der Literatur, an den Intrigen und Boshaftigkeiten, die hinterrücks brieflich oder über Zeitschriften ausgetauscht wurden. Der ältere Geheimrat Goethe ist dabei allgegenwärtig, steht oft zwischen allen Stühlen und versucht, zwischen den Fraktionen zu vermitteln.

Wulf zeigt dabei die Grenzen auf, an die das Ideal des erstmals in den Mittelpunkt gerückten Ich unweigerlich stoßen musste: Ein vom Selbst getriebener und überzeugter Kreis aus individuellen Geistern kann nicht lange als Kollektiv funktionieren, sondern dreht früher oder später hohl.

Und wo der freie Wille regiert, wächst auch der Widerstand – selbst im relativ toleranten Sachsen-Weimar ging Herzog Carl August manches zu weit, und die libertären Auffassungen erschreckten nicht nur hartgesottene Moralapostel.

Die Frühromantiker wurden in alle Winde zerstreut - ihre Ideen aber waren in der Welt

Auch im Jenaer Kreis selbst gab es wenig romantisch anmutende Zwistigkeiten. Gerade Dorothea Veit und Caroline Schlegel waren sich ganz und gar nicht grün. Eifersucht, Missgunst, Schicksalsschläge taten ihr weiteres, um das Experiment scheitern zu lassen und die Frühromantiker in alle Winde zu zerstreuen. Ihre Ideen aber waren in der Welt. Und wie Andrea Wulf in einem Epilog zumindest andeutet – sie waren weit über den deutschsprachigen Raum hinaus einflussreich.

Ob es sich um in der Luft liegende Phänomene handelte oder um direkte Impulse aus Jena, ist nicht so leicht zu entscheiden. Wulf jedenfalls zieht eine direkte Linie von der Jenaer Avantgarde zu den englischen Romantikern William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge, zur nächsten englischen Romantiker-Generation um Lord Byron, und auch in Russland, Spanien, Italien, Frankreich, Schweden oder Polen findet sie Spuren der Frühromantiker. Bis hin zu den amerikanischen Transzendentalisten reichte der lange Arm der philosophischen Neuerer.

„Die Bewunderung der Amerikaner ging so weit, dass Edgar Allan Poe Nathaniel Hawthorne sogar vorwarf, er würde Ludwig Tiecks Werk so ausgiebig kopieren, dass er »in keinster Weise originell« sei. Diese Sünde dürfte Poe vor allem deshalb aufgefallen sein, weil er selbst einige Seiten aus August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur genommen und unter seinem eigenen Namen veröffentlicht hatte.“
(Aus Andrea Wulf: Fabelhafte Rebellen)

Was man von Andrea Wulfs kurzweiligem, anschaulich geschriebenem und hervorragend komponiertem Buch nicht erwarten sollte: philologische Detailarbeit. Wichtige Werke werden zwar gestreift, aber nicht eingehend untersucht. Die philosophischen Theoreme werden umrissen, aber nicht in ihrer abgründigen Tiefe erläutert. Der von Friedrich Schlegel entwickelte romantische Ironie-Begriff etwa findet nicht einmal Erwähnung.

Aber man darf ein Buch natürlich nicht an dem messen, was es nicht sein will. Als wunderbar lesbare Einführung in eine Zeit des Umbruchs ist „Fabelhafte Rebellen“ mehr als gelungen.


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Ulrich Rüdenauer