Karl-Sczuka-Preis 2016

Christina Kubisch, Peter Kutin und Florian Kindlinger: Desert Bloom

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Christina Kubisch; Peter Kutin; Florian Kindlinger

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Mit „Desert Bloom“ unternehmen Peter Kutin und Florian Kindlinger gemeinsam mit der Klangkünstlerin Christina Kubisch eine Expedition auf die akustische Rückseite der Wüstenstadt Las Vegas.

Die drei Preisträger des Karl-Sczuka-Preises Florian Kindlinger, Christina Kubisch und Peter Kutin (Foto: SWR, Ralf Brunner)
Florian Kindlinger, Christina Kubisch und Peter Kutin

Eine Hörspielkomposition

Desert Bloom bildet den dritten Teil des von Peter Kutin in Zusammenarbeit mit Florian Kindlinger konzipierten Arbeitszyklus Decomposition. Nach den Themen Abwesenheit (desert sound, 2012) und Introspektive (E#, 2013) wird hier die Illusion zum inhaltlichen Ankerpunkt.

Desert Bloom nimmt die Stadt Las Vegas als Metapher für die Illusion hinter den sozialen Wertvorstellungen von Geld, Liebe, Glück, Macht und Sex. Las Vegas verkauft und stützt sich wirtschaftlich auf den Handel mit diesen (Glücks-)Begriffen, die um die BesucherInnen herum arrangiert zu sein scheinen wie die Früchte und das Wasser rund um den verbannten Tantalos in der griechischen Mythologie. Um den Dollar dreht sich alles in diesem 1905 inmitten einer Wüste zur Stadt gewordenen Traum vom legalisierten Glückspiel, wo man verzweifelt und abgebrannt hinkommen, aber vielleicht reich wieder weggehen konnte. Es ist das Konzept dieser Stadt, ihre Geschichte und Aura und vor allem ihr Sound, die den Inhalt der Komposition ausmachen.

it’s hard to adjust to a city where the night is full of sounds, all of them comfortably routine. Cars, horns, footsteps
– no way to relax…

Elektromagnetische Realität

Die Tonspur wurde in Kooperation mit der renommierten deutschen Komponistin Christina Kubisch vor Ort aufgenommen und später gemeinsam arrangiert. Christina Kubisch ist darauf spezialisiert elektromagnetische Felder und Wellen hörbar zu machen – und genau von diesen gibt es in Las Vegas mehr als an anderen Orten der Welt: Spielautomaten, Neonschilder, Security Gates, WLANs, Funksignale, Überwachungskameras etc. Alles, was elektromagnetische Strahlung erzeugt oder sendet, wird von Kubisch direkt hörbar gemacht und aufgezeichnet. Es ergeben sich abstrakte und oftmals auch aggressiv anmutende Klänge von sehr direktem, raumlosen Charakter und fesselnder Qualität. Es handelt sich in der Tonebene dabei jedoch stets um eine Abbildung der Wirklichkeit; das Konzept dieser Komposition folgt insofern einem dokumentarischen Dogma, stützt sich auf real-akustische sowie real-elektromagnetische Klänge, die vor Ort aufgenommen wurden.

Zeitlich nicht verhaftet

Las Vegas erscheint in der Arbeit klanglich immer wieder als etwas Abstraktes, es wirkt nicht am Puls der Zeit, eher wie eine Halluzination, in der nur noch die elektromagnetischen Felder schier geisterhaft pulsieren, zirpen, surren und knacksen. Hinzu kommt die alles umfassende Wüste, in welcher die Stadt erst vor etwas mehr als hundert Jahren aus dem Boden gestampft wurde. Klangästhetisch ein Kontrapunkt, ein Pendeln zwischen Sound-Überfluss und klanglicher Kargheit. Dazwischen mäandert die Geschichte der Protagonistin als Bindeglied von einem Ort zum nächsten: Spielsüchtige, ein Obdachloser, eine Prostituierte, die Klangwolken im Inneren der Casinos etc. Die Stimme leitet den/die ZuhörerIn. Durch diese Wechselwirkung zwischen realen und abstrakten Klängen, zwischen dichten Klangstrukturen und Monolog bekommt das Stück Rhythmus und Form. Hinter der „normalen“, erfahrbaren Realität wird eine andere, normalerweise im Verborgenen liegende Wirklichkeit sichtbar.

Das Stück weist eine hybride Form auf, die über weite Strecken als auskomponiertes Musikstück wirkt, auf der anderen Seite bedient es sich der Form eines dokumentarischen Essays. Nach einem Intro, das gleichsam als Hommage an Nicolas Tesla, den Erfinder des Wechselstroms und damit der Lebensader dieser Stadt, gelesen werden kann, führt die Erzählstimme die ZuhörerInnen in die Welt der elektromagnetischen Klänge ein. Mit akustischen Prothesen ausgestattet, die es ihr ermöglichen, ausschließlich elektromagnetische Emission um sie herum zu hören, streift die Figur durch Las Vegas. Strom erscheint hier als das eigentlich nicht wahrnehmbare, das verborgene, das die Illusion befeuernde Element klanglicher Roh- und Schönheit. Dabei bleibt bei Desert Bloom trotz aller Abstraktion eine Verbindung zur Realität bestehen. Die Bewegung durch diese Welt findet tatsächlich und in Echtzeit statt.

Abstrakte, musikalisch arrangierte Passagen aus bizarren Klängen beschreiben Wegstrecken der Erzählerin an verschiedenen Orten der Metropole. Dazwischen reflektiert sie über das von ihr Wahrgenommene. Ihre Gedankengänge kreisen rund um den vergleichsweise kurzen Einfluss von Elektrizität auf das menschliche Dasein und unser Verhalten in einer elektronisch modifizierten und künstlich erleuchteten Welt.

Dazwischen hören wir O-Töne und Anekdoten von Begegnungen auf ihrer Reise. Ein einheimischer Licht-Designer berichtet: „I don’t remember the city getting brighter, I remember the sky was getting darker.“ Die Helligkeit der Stadt, der stetig zunehmende Lichtsmog löschte für seine Augen sukzessive die Sterne vom Nachthimmel. Die Dunkelheit der Wüste ist in Las Vegas Vergangenheit.

In dieser künstlichen Umgebung verschwimmt die Wahrnehmung der Wirklichkeit: „Reality itself is too twisted“, muss sich die Erzählerin an einem Punkt eingestehen.

Bereits 1975 beschrieb Hunter S. Thompson, als er sich nach Las Vegas aufmachte, um dort den amerikanischen Traum zu suchen, die Stadt als Illusion, ein irreales, schwer fassbares Trugbild aus Licht, das, gleich einer Pflanze, ständig weiter wächst und die Wüste in einer fremdartigen Blüte erstrahlen lässt. In einer Inschrift am Hoover Dam, welcher die Stadt mit Strom versorgt, ist in Erinnerung an die Arbeiter, die bei dessen Errichtung ihr Leben ließen, zu lesen: „They left their life to make the desert bloom.“

Las Vegas elektromagnetisch

Die Übersetzung von elektromagnetischen Feldern in Klang ist normalerweise eine Realität, die unbekannt und daher befremdend, überraschend, manchmal auch unheimlich oder auch anregend wirkt. In Las Vegas besteht die Realität allerdings aus der Schaffung von Illusion, der Umsetzung von fernen Traumorten und Atmosphären in handfeste Bauten und Anlagen vor Ort.

Die dort vorhandenen Klänge entsprechen diesen Orten noch klischeehafter als die imitierten Architekturen und Landschaften. Das Auge ist leichter zu täuschen als das Ohr. Es reicht, wenn in Las Vegas-Venedig auf den künstlichen Kanälen Canzoni wie „O sole mio“ gesungen und italienische Opern gespielt werden, um einen beliebigen Ort in Italien zu verwandeln. Die elektromagnetische Ebene kennt keine Illusionen – sie zeigt die magnetischen Spannungsfelder so an, wie sie tatsächlich sind. Direkt und live, ohne Verkleidung. Diese Diskrepanz ist bei Orten, die besonders stark auf Traumwelten bauen, sehr interessant.

Die magnetischen Felder entlarven die Kunst der Illusion auf einer separaten (dritten) Ebene neben der real von den Besuchern erzeugten Klang- kulisse und den künstlich implantierten klischeehaften Illusionsklängen. Die Skylines von Neonreklamen, Laufbändern und Lichtsequenzen werden nach meinen bisherigen Erfahrungen stark rhythmische monoton knackende und sirrende Klangmuster bilden. Interessant ist dabei, dass es in Las Vegas keine Zeitfenster gibt, innerhalb derer man Veränderungen hören könnte, selbst elektromagnetisch. Fast alles läuft 24 Stunden durch, in den Kasinos gibt es keine Uhren, Wachen und Schlafen folgen eigenen Gesetzen. Der künstliche Himmel im La Venetian simuliert die Stufen vom Sonnenaufgang zur Dämmerung, ohne Bezug auf reale Zeiten.

Beteiligte

Konzept, Regie und Arrangement: Peter Kutin
Idee, elektroakustische Tonaufnahmen und Arrangement: Christina Kubisch
Produktion, Regieassistenz, Tonaufnahmen und Arrangement: Florian Kindlinger Redaktion: Markus Heuger
Produktion: WDR 2015
Ursendung: WDR3 am 13. November 2015

Der Wettbewerb 2016 und die Jurybegründung

In diesem Jahr wurden 70 Wettbewerbsbeiträge von 100 Bewerberinnen und Bewerbern aus 19 Ländern eingereicht.
Über die Zuerkennung der Preise hat am Donnerstag, 21. Juli 2016, in Baden-Baden eine unabhängige Jury unter Vorsitz der ehemaligen Kulturstaatsministerin Christina Weiss entschieden, der weiterhin Margarete Zander, Helmut Oehring, Marcel Beyer und Michael Grote angehörten.

"Mit „Desert Bloom“ unternehmen Peter Kutin und Florian Kindlinger gemeinsam mit der Klangkünstlerin Christina Kubisch eine Expedition auf die akustische Rückseite der Wüstenstadt Las Vegas. Jenseits seiner glitzernden Oberfläche besteht das Zentrum des Entertainments aus einem extrem dichten Netz elektromagnetischer Wellen, die, als unablässiges Flimmern und Pochen hörbar gemacht, das Ausgangsmaterial eines faszinierenden Audioporträts einer Megacity zwischen Erzählung und Soundscape, Dokumentation und experimenteller Erkundung neuer Hörwelten bildet."

Die Preisverleihung fand am 15. Oktober als öffentliche Veranstaltung im Rahmen der Donaueschinger Musiktage 2016 statt.

Peter Kutin

Geboren 1983 in Leoben, Steiermark. Studium der Computermusik / neue Medien an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Ist seit 2002 als Komponist und Produzent in Wien gemeldet. Arbeitet mit Klang. Für Aufführungen entwirft Kutin interdisziplinäre Systeme, die er nonkonformistisch inszeniert und dabei Genregräben überbrückt hat (Neue Musik – Film – Klangkunst – Live-Performance). Die Arbeiten stützen sich jeweils auf die konzeptionell komponierte Tonebene, hinterfragen in ihrer Aufführungspraxis die Spartentrennung der Künste an sich.

Florian Kindlinger

Geboren 1984 in Salzburg. Studium der elektroakustische Musik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien sowie Masterstudiengang Multi Media Art an der FH Salzburg. Lebt seit 2004 als Musiker und Tontechniker in Wien und Salzburg. Betreuung diverser Konzerte und Veranstaltungen. Klangregie bei den Salzburger Festspielen. Zahlreiche Arbeiten im Bereich Set-Ton, Tonschnitt sowie Sounddesign für Film und Fernsehen.

Christina Kubisch

Geboren 1948 in Bremen. Studium der Malerei, Musik und Elektronik in Hamburg, Graz, Zürich und Mailand. Auf Performances und Videokonzerte in den 70er Jahren folgen seit Beginn der 80er Jahre raumbezogene Klanginstallationen, Lichträume und Arbeiten im öffentlichen Raum. Zahlreiche elektro-akustische Kompositionen und Radioproduktionen. Seit 2003 erneut Live-Auftritte. Seit 1975 Veröffentlichungen von Schallplatten, Kassetten und CDs. Gastprofessuren in Maastricht, Paris, Berlin und Oxford. Von 1994 bis 2013 Professorin für Audiovisuelle Kunst an der Hochschule der Bildenden Künste Saarbrücken. Seit 1997 Mitglied der Akademie der Künste Berlin.

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Christina Kubisch; Peter Kutin; Florian Kindlinger