Sprachgeschichte

Bibbern, malochen und ausbaldowern – Rotwelsch war die Sprache der gesellschaftlichen Außenseiter

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AUTOR/IN
Nick Sternitzke
ONLINEFASSUNG
Lydia Huckebrink

Rotwelsch war die Geheimsprache der gesellschaftlich Ausgegrenzten. Auch Räuber nutzten sie, um sich zu tarnen und den Gruppenzusammenhalt zu fördern. Bis heute finden sich viele Wörter in unserer Sprache.

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Die Sprache des fahrenden Volkes

„Rotwelsch“ – das heißt wörtlich übersetzt die „unverständliche Sprache der Bettler“. „Es ist eine Sprache der Straße“, sagt der Literaturwissenschaftler Martin Puchner, „die Sprache des fahrenden Volkes, der Vagabunden, der Nicht-Sesshaften.“ So ist zum Beispiel das Jenische eine Variante von Rotwelsch.

„Die Grammatik ist Deutsch“, sagt Puchner, „aber trotzdem würde man das als Deutschsprachiger nicht verstehen, weil die deutschen Begriffe ihre Bedeutung verändern und viele Begriffe aus anderen Sprachen eingeflossen sind.“ Aus dem Jiddischen und Hebräischen zum Beispiel, aber auch slawische und romanische Begriffe.

Rotwelsch lebt weiter

Rotwelsch lebt sogar heute noch in Dialekten weiter, weil viele der Rotwelsch-sprechenden Menschen nach dem Dreißigjährigen Krieg – in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts – in die Städte geflohen sind. So ist die „Polente“ auch heute noch im Berlinerischen eine gängige Bezeichnung für die Polizei und hat ihren Ursprung im Rotwelsch.

Ebenfalls in unserem Sprachgebrauch sind:

Kohldampf = Hunger haben

Ausbaldowern = auskundschaften

Schmiere stehen = Wache halten

Kies, Knete, Kohle, Kröten, Mäuse, Moos, Zaster = Geld

Bibbern = frieren

Bammel = Angst

Juden, Sinti, Roma, Bettler – Ausgestoßene unter sich

Die Angst gehört bei diesen Menschen zum Alltag. Wer Rotwelsch spricht, und damit zur Gruppe der Räuber, Bettler, Vagabunden und fahrenden Händler gehört, ist nicht Teil der Gesellschaft – und ihm wird jede Resozialisation verwehrt.

Die Mehrheit bestimmt, wer dazugehört und wer nicht. Juden sind bis ins 19. Jahrhundert von landwirtschaftlichen und bürgerlichen Berufen ausgeschlossen. Eine Wahl haben sie also nicht.

Außerhalb der sesshaften Ziviligesellschaft treffen die Ausgestoßenen aufeinander: neben Juden auch Angehörige der Sinti und Roma. Es entsteht eine eigene Sprache – befeuert durch Antiziganismus und Antisemitismus.

Sprache stiftet Gemeinschaft

Ständige Migration bestimmt das Leben dieser Außenseiter, die in Rotwelsch eine identitäts- und gemeinschaftsstiftende Sprache finden. Verbundenheit in der Isolation.

Wer Rotwelsch versteht und spricht, ist Teil einer Community, die sich bewusst von den Sesshaften abgrenzt und ihre eigenen Traditionen formt und pflegt. Rotwelsch ist das Produkt einer systematischen Ausgrenzung – aber auch die Sprache einer multiethnischen Subkultur – und bis heute in aller Munde.

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Nick Sternitzke
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Lydia Huckebrink