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Die Aufrüstung des Körpers – Mensch, Maschine und Moral

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Dirk Asendorpf
Dirk Asendorpf
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Ralf Kölbel

Gelähmte können dank Exoskelett "gehen", Taube hören durchs Cochlea-Implantat. Alles nur positiv? Die Technisierung des Körpers schreitet voran und wirft ethische Fragen auf.

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"Es gibt drei Kategorien Menschen", sagt Andre van Rüschen. "Die einen beachten einen gar nicht, das sind die meisten. Das ist mir auch am liebsten. Dann gibt’s die, die total auf Technik abfahren. Die kommen natürlich her und fragen und gucken auch mal mehr. Und dann gibt’s Kinder. Die finden es natürlich toll, die schreien schon von weitem: Da kommt ein Roboter!"

Andre van Rüschen ist seit 16 Jahren querschnittsgelähmt. Dank eines Exoskeletts kann er sich seit etwa fünf Jahren wieder fortbewegen. Bzw. die Maschine bewegt ihn: Das Exoskelett macht die Schritte, Andre van Rüschen muss mit seinen beiden Stützen die Balance halten. Dafür braucht er etwas Platz um sich herum. Trotzdem bewegt er sich recht flüssig.

Doch das Beispiel macht noch etwas anderes deutlich: Viele futuristisch anmutenden Entwicklungen sind bei Licht betrachtet noch recht ernüchternd. Selbst das Exoskelett, mit dem Andre van Rüschen unterwegs ist, scheitert noch an höheren Bordsteinkanten. Auch bei Regen und rutschigem Untergrund sollte er es besser nicht benutzen. Und rückwärts kann es überhaupt nicht laufen.

Exoskelette: 95 Prozent Sicherheit sind zu wenig

"Wir kennen aus den Medien vor allem die Hochglanzversion, das Video oder den Youtube-Clip, wo jemand über glitschige Steine springen kann mit einem prothetischen Fuß ohne auszurutschen oder eben ein Weinglas in der Hand halten kann", bestätigt der Lübecker Medizinhistoriker Cornelius Borck. Die Realität sei oft eine andere. Es klinge zwar gut, wenn bestimmte Bewegungsabläufe in 95 Prozent der Fälle funktionieren. Tatsächlich reicht das im Alltag nicht. Wenn eine bestimmte Bewegung wie z.B. das Laufen mit einem Exoskelett in 95 Prozent der Fälle klappt, bedeutet das gleichzeitig: Jeder 20. Versuch scheitert – mit der Gefahr, dass der Patient stürzt oder sich verletzt.

Exoskelette: Einsatz auch bei Gesunden

Auch die Automobilindustrie experimentiert mit Exoskeletten. Bei Audi und BMW werden körperlich unversehrte Arbeiter für bestimmte belastende Tätigkeiten am Fließband damit unterstützt, zum Beispiel beim Montieren in hockender Position oder beim Überkopf-Arbeiten. Das schont Rücken und Arme und verbessert die Leistungsfähigkeit. Ein Versprechen, das auch schon in den Sport eingezogen ist. 

Bevor der unterschenkelamputierte südafrikanische Sprinter Oscar Pistorius im Juli 2012 an den Olympischen Spielen in London teilnehmen durfte, musste der Internationale Sportgerichtshof darüber entscheiden, ob ihm seine aus Karbon gefertigten Hightechprothesen einen ungerechten Vorteil gegenüber den nichtbehinderten Sportlern verschaffen. Zwar schied Pistorius damals im Halbfinale des 400-Meter-Laufs noch als Letzter aus. Doch die Frage bleibt aktuell.

Cochlea-Implantat: Immer gut?

Wenn ein Implantat gehörlose Menschen wieder Töne hören lässt – was sollte dagegen sprechen, es einzusetzen? Doch schon hier stellen sich Fragen.

Beispiel: Die Harfenistin Hanna Möller liebt akustische Musik und hat, wie sie selber sagt, mit Technik nichts am Hut. Doch vor 20 Jahren war sie gezwungen, sich intensiv damit zu befassen: Ihre Tochter wurde taub geboren – und als Mutter musste Hanna Möller entscheiden, ob sie ein sogenanntes Cochlea-Implantat bekommen sollte. 

Unter Vollnarkose wird dafür eine Mulde in die Schädeldecke gefräst. Darin findet eine Hörprothese Platz, die per Kabel mit einer Elektrode im Innenohr und über eine Spule mit der Steuereinheit verbunden wird, die außen hinter dem Ohr getragen werden kann, so wie bei diesem Mann:

Dieter Schmitz mit Hörimplantat
Das geht auf den Hörnerv. Das sogenannte Cochlea-Implantat ist eine elektronische Hörprothese.

Zwang zur Optimierung

Wird das Cochlea-Implantat schon im Vorschulalter eingesetzt, nehmen viele taub geborene Kinder nach einer monatelangen Trainingsphase akustisch so viel wahr, dass sie normale Sprache lernen, Gespräche führen und später am Regelunterricht teilnehmen können. Allerdings ist die Operation nicht ungefährlich und sie gelingt auch nicht immer. Hanna Möller war zunächst dagegen. Erst nach langem Abwägen entschied sie sich für die Operation. Ihre Tochter ist ihr heute dankbar dafür. Sie ist sprachbegabt und für sie war es das Richtige.

Doch es gibt andere Beispiel wie den dreijährigen Leon in Goslar. Auch er wurde taub geboren. Seine Eltern sind allerdings ebenfalls beide taub, und sie haben sich gegen das Hör-Implantat entschieden. Schließlich kommunizieren sie in der Familie und im Freundeskreis in Gebärdensprache – und finden das auch völlig ausreichend.

Doch gefährden die Eltern damit womöglich das Kindeswohl? Diese Sorge hat das Jugendamt und lässt vom Familiengericht prüfen, ob die Entscheidung gegen das Implantat überhaupt rechtens ist.

Plötzlich stellen sich Grundfragen in Bezug auf körperliche Beeinträchtigungen. Was ist "Kindeswohl"? Gehörlose können sich per Gebärdensprache verständigen, Blinde navigieren mit dem Langstock sicher durch eine Menschenmenge. Ist das nicht ebenso normal wie die akustische Unterhaltung und der Blick nach vorne? Sind für die vollständige Teilhabe an der Gesellschaft wirklich genau fünf Sinne nötig? Hören, Sehen, Schmecken, Riechen, Fühlen?

Wenn jemand Erblindung als Befreiung erlebt

Joachim Steinbrück kennt das Thema aus eigener Erfahrung. Der Jurist ist im Schulalter vollständig erblindet. Heute ist er Bremens Landesbehindertenbeauftragter. In den Ersatz- und Zusatz-Sinnen, die moderne Prothesen-Technik möglich macht, sieht er auch eine Gefahr. Denn daraus kann ein Zwang entstehen, diesen angeblichen medizinischen Fortschritt mitzumachen.

Seine eigene Blindheit hat Joachim Steinbrück sogar als Befreiung erlebt. Als er im Jugendalter den letzten Sehrest verlor, musste er sich nicht mehr mit immer weiter zunehmenden Einschränkungen herumplagen, sondern konnte an einer Blindenschule ein neues Leben starten.

Die zwei Seiten von Prothesen

Prothesen können somit beides sein: Sie helfen Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen, diese ein Stück weit zu kompensieren. Sie können aber auch dazu dienen, Menschen mit zusätzlichen Fähigkeiten auszustatten.

Ein Speicherchip im Hirn vergisst nichts. Ein Navi im Ohr wird zum sechsten Sinn und weist stets den richtigen Weg. Ein Etikett unter der Haut dient als Pass, öffnet Türen und Computerprogramme. Der Herzkranke bekommt einen Schrittmacher, der Taube ein Cochlea- und der Blinde ein Retina-Implantat. Die technische Aufrüstung des Menschen macht große Fortschritte.

Bald lebt vielleicht das Hirn eines krebskranken Körpers als Steuereinheit eines Roboters weiter. Und Behinderte könnten gefragt werden, wieso sie denn Barrierefreiheit fordern, wenn es doch passende Ersatzteile für ihr Handicap gibt. Wollen wir das? Braucht die Kreuzung von Mensch und Maschine ethische Grenzen? Sind das überall auf der Welt die gleichen? Und was sagen Betroffene dazu?

Künstliche Arme, künstliche Beine – das würden die meisten Menschen noch nicht als grundsätzliche Veränderung der Persönlichkeit sehen. Schwieriger wird es schon bei einer künstlichen Stimme, so wie beim kürzlich verstorbenen Astrophysiker Stephen Hawking. Und was wäre mit dem Gehirn eines krebskranken Körpers, das als Steuereinheit eines Roboters weiterlebt?

"Hirn im Glas" bleibt Fiktion

Noch ist das "Hirn im Glas" Science-Fiction. Zwar haben Wissenschaftler es bereits geschafft, den Denkapparat eines Schweins außerhalb des Körpers von künstlichem Blut durchströmt am Leben zu erhalten. Und auch an der Steuerung technischer Apparate durch reine Gedankenkraft mithilfe sogenannter Brain-Computer-Interfaces wird seit zwei Jahrzehnten in vielen Laboren gearbeitet. Doch die Ergebnisse sind noch recht ernüchternd.

Chips im Körper – Cyborgs

Weltweit soll es bereits mehrere Zehntausend sogenannte Cyborgs geben, die sich – ganz ohne medizinische Notwendigkeit – Chips implantiert haben. Dazu kommen Tausende sogenannte Biohacker, die versuchen, ihre Körper mit gentechnischen Eingriffen zu optimieren.

Noch ist die Fusion von Mensch und Maschine zur Menschmaschine vor allem eine Gedankenspielerei. Doch die ist zu wichtig, um sie einfach zu vertagen, sagt der blinde Landesbehindertenbeauftragte Joachim Steinbrück: "Ich befürchte, dass die technische, medizinische Entwicklung viel schneller ist, als wir in der Identifikation solcher ethischen Probleme und dem gesellschaftlichen Diskurs darüber. Ich würde immer sagen: Netzhaut-Implantat, Cochlea-Implantat, Exoskelett halte ich dann, wenn die Menschen sich sehr bewusst und nachdem sie darüber aufgeklärt worden sind, dafür entscheiden, dann halte ich das für akzeptabel. Aber ich habe so ein ungutes Gefühl bei der Vorstellung, dass man diesen Prozess immer weiter geht und irgendwann ein Gehirn, was in einer Maschine eingebaut ist, diese Maschine steuert und auch am Leben erhalten wird von dieser Maschine. Der Roboter-Mensch wäre das."

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