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Stasi-Schulung: Was Dokumente über die Psyche der Autoren verraten

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SWR2 Archivradio

Dieser diktierte Text behandelt die Analyse von Handschriften psychisch kranker Personen. Anlass: Viele anonyme Zuschriften ans MfS stammen offenbar von Absendern mit seelischen Störungen.

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Der Text ist wie eine präzise wissenschaftliche Abhandlung formuliert. Der Vortrag lautet „Methodik zur Bestimmung psychischer Abweichungen des Autors eines anonymen Dokumentes an Hand der schriftlichen Rede und der Handschrift“. Er dauert im Original 5 Stunden und dreht sich um eine Theorie der Beurteilung von Handschriften psychisch kranker Personen.

Der Anlass dafür, so ist der Sprecherin zu Beginn zu entnehmen, ist die Erfahrung, dass die Absender der meisten anonym ans MfS gesandten Nachrichten seelische Defekte aufwiesen. Offenbar war dem Ministerium daran gelegen, diese Briefe nach bestimmten wissenschaftlich erarbeiteten Kriterien schnell und effektiv auszusortieren, um sich auf andere zu konzentrieren. Allerdings weisen die Detailverliebtheit und Redundanz des O-Tons auch auf eine Art der Selbstbeschäftigung der Operativen Psychologie hin. Es ist unwahrscheinlich, dass diese theoretisch klingende Arbeit mit einigen praktischen Beispielen irgendetwas in der Stasi bewirkten. Aber sie passt ins Themenfeld der Operativen Psychologie.

Unter den psychischen Defekten wird hier vor allem verstanden, dass die Verfasser der anonymen Briefe sich nicht ins sozialistische System eingliederten, sondern Anstoß daran nahmen. Im Rahmen des Diktats fallen Begriffe wie pathologische Weltanschauung und Wahnideen, Zwangsvorstellungen und Epilepsie.

Die Sprecherin gibt ein Raster zur Beurteilung der Einsendungen mit einer „Makro- und Mikroanalyse“ vor. Quasi: Wenn der Text keine Auffälligkeit als Ganzes aufweist, muss man Details untersuchen.

Als ein Beispiel wird ein angeblich „gestörter“ Absender zitiert, der auf einen Atomkrieg der Amerikaner hofft, damit sich endlich ein gerechtes neues System entwickeln könne. „Ich werde diesem Land viel Böses tun.“ Die Vortragende, deren Namen wir nicht kennen, spricht hier von einer Verzerrung des Verallgemeinerungsprozesses. Weil der Autor auch die russische Sprache ins Spiel bringt, russische Textteile in lateinischer Schrift formuliert, mit zwei Tintenfarben, nämlich blau und rot, wird die Analyse komplex, kommt aber zum Schluss, dass eine „Störung der Symbolisierung“ hier nicht angezeigt sei.

Die Kassetten sind undatiert.

Manchmal kommt es zu Gleichlaufschwankungen, und die Stimme wird höher und schneller, weil die Batterien des Diktiergeräts zu Ende gehen.

Im Stasi-Unterlagenarchiv haben die Kassetten die Signatur MfS HA IX/Ka/3-6. Die Hauptabteilung IX war für strafrechtliche Untersuchungen durch das Ministerium für Staatssicherheit zuständig.

Archivradio-Gespräch Die geheime Stasi-Akademie für "Operative Psychologie"

Wie schüchtere ich Menschen wirkungsvoll ein? Wie befrage ich das Umfeld von Verdächtigen? Tonaufnahmen belegen, wie die Stasi ihre Mitarbeiter in "Operativer Psychologie" schulte.

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