23.2.1932

Goebbels keift gegen Hindenburg

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SWR2 Archivradio

Der Reichstag vor Hitler

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Die Neuwahl des Reichspräsidenten steht an. Joseph Goebbels (NSDAP) beschreibt Hindenburg als Witzfigur und nutzt die Aussprache für eine "Abrechnung" mit der Regierung. Goebbels wird des Saals verwiesen. Der Rest der Debatte ist von Tumulten geprägt. Kurt Schumacher spricht von einem hohen Grad der Verachtung und "Dummheit" der Nationalsozialisten.

Praktisch alle Parteien sind vertreten, die Flügelkämpfe werden sehr plastisch, ebenso die Bemühung der politischen Mitte (Zentrum, SPD), an diesem Parlament und der Demokratie festzuhalten. Es sind viele prominente Redner zu hören, unter anderem Walter Ulbricht, der später die DDR mit gründen wird.

Goebbels zieht Erfolgsbilanz des Nationalsozialismus

Im Kern der 58. Sitzung steht eine Rede des NSDAP-Abgeordneten Joseph Goebbels, der die SPD und den Reichspräsidenten in einem nie zuvor gehörten Ton angreift. Seine Äußerungen prägen noch die Debatten Tage danach.

Obwohl auf der Tagesordnung die Positionierung der Parteien zur anstehenden Wahl des Reichspräsidenten steht, nutzt Goebbels sie, eine Erfolgsbilanz der Nationalsozialistischen "Bewegung" zu ziehen. Mit diesem Selbstbewusstsein ausgestattet sagte er der Weimarer Demokratie ihr nahestehendes Ende voraus. Er wirft Reichstagspräsident Paul Löbe (SPD; sein Nachfolger wird im August Hermann Göring, NSDAP, werden) vor, gegen die Nationalsozialisten zu hetzen, als dieser gesagt hatte, selbst eine legale Übernahme der Macht durch die Ultrarechte würde für Deutschland den Bürgerkrieg bedeuten.

Goebbels assoziiert Reichspräsident Hindenburg mit einer Witzfigur

Goebbels Rede gipfelt in einer Beleidigung des Reichspräsidenten und der SPD. Er assoziiert Hindenburg mit einer Witzfigur und nennt die Sozialdemokraten die "Partei der Deserteure". Beides waren in der vom Trauma des Ersten Weltkriegs geprägten Republik heikle Punkte; schließlich galt Hindenburg als Kriegsheld, und große Teile der SPD-Fraktion hatten Kriegsdienst geleistet, während Goebbels kriegsuntauglich war. Goebbels meinte mit seiner Polemik die Anerkennung des Versailler Vertrags und die Gründung der Weimarer Republik durch u. a. die SPD.

Goebbels wird aus dem Saal gewiesen, NSDAP hetzt weiter gegen SPD

Er wird der Sitzung verwiesen – und geht tatsächlich, was bei den häufig des Saales verwiesenen anderen Nationalsozialisten nicht unbedingt üblich war.

Der Rest des Tages ist von Tumulten im Parlament geprägt. Der Kommunist Hugo Gräf konstatiert, dass Sozialdemokraten zu den Kriegstreibern gehört hätten und deswegen Vasallen des Kapitalismus seien. Der NSDAP-Abgeordnete Gregor Straßer – parteiintern ein erklärter Gegner von Goebbels – verteidigt Goebbels, nennt die SPD eine "Partei des Landesverrats", weil sie gegen Ende des Krieges einen Zusammenbruch des Reichs habe herbeiführen wollen.

Kurt Schumacher spricht von einem hohen Grad der Verachtung und „Dummheit“ der Nationalsozialisten.

Der spätere erste Staatsratsvorsitzende der DDR Walter Ulbricht nennt die Sozialdemokraten Träger der "faschisierenden bürgerlichen Diktatur". Hindenburg sei das "Programm des imperialistischen Krieges".

Gegen Ende beruhigt sich die außerordentlich turbulente Sitzung wieder. Die Parteivertreter äußern sich zur Wiederwahl Hindenburgs.

Erschließungstext des Deutschen Rundfunkarchivs zu dieser Aufnahme, vermutlich Ende der 1950er Jahre entstanden:

* Ernst Torgler (KPD): Antrag auf Rückziehung der Polizei vom Reichstagsgebiet (D 1'10)

* Paul Löbe (Reichstagspräsident) (D 0'35); Wilhelm Groener (Reichsinnenminister): Aufzählung der gesetzlichen Wahlvorschriften / Erster Wahltag: 13. März (D 3'45); Paul Löbe (D 0'30)

* Joseph Goebbels (NSDAP):

"Wir stellen fest, daß die drakonischen Notverordnungseingriffe, die seitens der Regierung in den letzten zwei Jahren auf dem Gebiete des Steuer- und Finanzwesens vorgenommen worden sind, in Deutschland die Substanz bis zum letzten Rest aufgezehrt und aufgefressen haben ... Darf man sich da nicht wundern, daß im Innern die Gegensätze sich mehr und mehr verschärfen, daß die politischen Fronten in erbitterter Feindschaft gegeneinander und gegenüber aufmarschieren, und daß die Gefahr eines latenten Bürgerkrieges von Tag zu Tag mehr wächst? Die Sanierung der Finanzen ist auf der ganzen Linien mißlungen ... Die Herren, die nun zu merken beginnen, daß sie auch nach den Spielregeln der Demokratie die Macht abgeben müssen, wollen sich nur darauf vorbereiten, die Macht wenn nötig mit Gewalt zu verteidigen. Aber sie täuschen sich. Sie treffen im Jahre 1932 nicht wie im Jahre 1918 auf ein feiges Bürgertum. Ihnen steht das erwachende Deutschland gegenüber...Glaubt der Herr Reichskanzler, daß er mit einem Volke, das innerlich in Streit und Bürgerkrieg verfällt, eine aktive Außenpolitik betreiben könnte? ... Glaubt er, daß seine Position vor dem Ausland begründet sei, wenn er im Rücken nicht mehr von einem großen und geeinten Volk gedeckt ist?" / "Glauben Sie, daß wir, von Ihnen am Rundfunk als illegale Hochverräter angeprangert, uns dazu hergeben, für die höchste Spitze der Verfassung auf parlamentarischem Wege die Amtszeit (des Reichspräsidenten) zu verlängern?"

*Karl Litke (SPD): Zwischenruf, "Wie ist es mit dem Scheck aus Düsseldorf?

* Goebbels: "Hindenburg hat die Sache seiner ehemaligen Wähler im Stich gelassen. Wir haben ihn mit dem höchsten Amt der Republik betraut in dem Glauben, daß er wenigstens in den Grundsätzlichkeiten die Politik vertrete, die das nationale Deutschland erforderte...Er hat sich eindeutig auf die Seite der Mitte, der Seite der Sozialdemokratie gestellt" / "Gelobt von der Berliner Asphaltpresse, gelobt von der Partei der Deserteure ..." / Beifall, Zurufe, Glocke, Ordnungsruf des Präsidenten, weitere Zurufe, Ordnungsruf gegen Dr. Mierendorff / Goebbels: "Die Juden der Berliner Asphaltpresse heben heute den Feldmarschall auf den Schild..." / Erneut erregte Zwischenrufe, Glocke (D 49'00)

* Paul Löbe: Unterbrechung der Sitzung (D 2'35)

* Ernst Lemmer (Deutsche Staatspartei): Protest im Namen mehrerer Reichstagsfraktionen gegen die Beleidigung Hindenburgs durch Goebbels (D 2'40)

* Walter Stubbendorff (DNVP): Diese Erklärung gilt nicht für die DNVP (D 0'50)

* Hugo Gräf (KPD): "Sozialdemokraten ebenso wie die Nationalsozialisten sind die Stützen des kapitalistischen Systems" (D 0'30)

* Gregor Strasser (NSDAP): " Mit dem Ausruf 'Partei der Deserteure' ist eine Partei deswegen gemeint, weil sie gegen Ende des Krieges gemäß ihrer internationalen Einstellung mit allen Mitteln bemüht war, das Kriegsende auch über den gewollten und beabsichtigten Zusammenbruch herbeizuführen. In dieser prinzipiellen Desertierung der Unabhängigen und Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ... liegt das Prinzip der Partei als der Partei des Landesverrats" (D 3'15)

* Kurt Schumacher (SPD): "Die Herren bringen auch keinerlei Voraussetzungen mit, um ein kritisches Urteil über uns abgeben zu können. Die ganze nat.soz. Agitation ist ein dauernder Appell an den inneren Schweinehund im Menschen" / "Wenn wir irgendetwas beim Nationalsozialismus anerkennen, dann ist es die Tatsache, daß ihm zum ersten Mal in der deutschen Politik die restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit gelungen ist" (D 5'00)

* Franz Künstler (SPD): "Ich habe immer für den Frieden unter den Völkern gekämpft" (D 1'00)

* Walter Ulbricht (KPD): Die Sozialdemokraten, die hier auftraten, versuchten zu beweisen, daß sie es waren, die die Interessen der Krupp u. Co. am besten vertreten haben / Sozialdemokratie zuverlässigste Stütze der "sich faschisierenden bürgerlichen Diktatur" / Ernst Thälmann, "der rote Arbeiterkandidat" / Auf dem Boden des Programms von Hindenburg stehen sie alle "von Severing bis Hitler" / "Hindenburg ist das Programm des imperialistischen Krieges" (D 9'40)

* Friedrich Baltrusch (Volksnationale Reichsvereinigung): "Im Herrn von Hindenburg sehen wir den zuverlässigen Garanten im Kampfe für die nationale Freiheit des deutschen Volkes, für die Freiheit der christlichen Kultur und Lebensform und für die Sicherheit einer zukünftigen soziale

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