Musikstück der Woche vom 27.2.-4.3.2012

Fromm, aber süffig

Stand
AUTOR/IN
Doris Blaich
Dorothea Bossert

Francis Poulenc: Quatre petits prières de Saint Francois d’Assise

Poulencs “Vier kleine Gebete” sind für den Chor des Franziskanerklosters Champfleury geschrieben. Auch außerhalb der Klostermauern entfalten sie ihre Wirkung: In unserem Musikstück der Woche singen die Herren des SWR Vokalensembles Stuttgart unter Leitung ihres Chefdirigenten Marcus Creed. Ein Live-Mitschnitt vom November 2005 aus der evangelischen Kirche Stuttgart-Gaisburg.

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„Ich verehre den heiligen Franziskus“, gestand Francis Poulenc, „aber ein wenig schüchtert er mich auch ein. Auf jeden Fall wollte ich mit der Vertonung seiner so wunderbar anrührenden Gebete ein Zeichen der Demut setzen.“ Angeregt hat dieses musikalische Demutszeugnis Poulencs Großneffe, der als Mönch einem Franziskanerkloster angehörte. Er schickte seinem Onkel die Texte und statt eines Honorar-Angebots schloss er seinen Brief mit den Worten: „Ich versichere Sie meiner Gebete wie derjenigen des ganzen Klosters“. Wie hätte Poulenc (ein gläubiger Katholik) da widerstehen können? Er sagte denn auch sofort zu. Und wenige Wochen nach der Anfrage, im Spätsommer 1948, war die Komposition fertig.

Wie erzeugt man mystisches Schweben?

Vom Notenbild her erscheinen die „Vier Gebete“ leicht: homophone, in ihrem Rhythmus dem Sprachduktus folgende Gesänge, bei denen meist eine oder zwei Stimmen mit liegenden Tönen den Klang binden und größere Phrasierungen erzeugen.
Zu singen sind die Gebete aber sehr heikel: Sie haben eine dichte und gleichzeitig süffig-exquisite Harmonik, die nur bei optimaler Intonation ihr mystisches Schweben entfaltet. Der syllabisch vertonte Text droht immer wieder die Phrasen zu zerstören und muss legatissimo, dabei aber immer im Rhythmus bleibend gesungen werden, denn sonst würde der Puls dieser Musik zerstört. Und dieser Puls ist existentiell, denn nur durch ihn werden die endbetonten, „synkopischen“ Melodiebildungen und die asymmetrischen Phrasen spürbar, die für die französische Sprache und für die französische Musik so typisch sind.
Wie die Aufführung des Klosterchors wohl geklungen haben mag? Vielleicht nicht perfekt, aber sicherlich anrührend. Jedenfalls schrieb Poulenc dem Chorleiter: „Die Atmosphäre von Klarheit und Vertrauen, die in Ihrem Ensemble zu spüren ist, berührt mich tausend Mal mehr als die Arbeit mit Berufskünstlern, die während eines Konzerts zwanzigmal auf die Uhr schauen.“

SWR Vokalensemble Stuttgart

Das SWR Vokalensemble kurz vor einer Aufnahme
Das SWR Vokalensemble kurz vor einer Aufnahme

Die Geschichte des SWR Vokalensembles Stuttgart spiegelt in einzigartiger Weise die Kompositionsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts wieder. Auf Beschluss der Alliierten und im Zuge von Demokratisierungsmaßnahmen wurden 1946 Rundfunkanstalten und Ensembles gegründet, darunter auch der damalige Südfunkchor. Ihm kam die Aufgabe zu, das Schallarchiv mit Musik aller Arten und für jegliche Anlässe zu versorgen. Mit dem Dirigenten Hermann Joseph Dahmen, der den Chor von 1951 bis 1975 leitete, begann die Zeit der allmählichen Spezialisierung auf Neue Musik. Von 1953 an vergab der Chor regelmäßig Kompositionsaufträge.

Zu internationaler Reputation als Ensemble für Neue Musik gelangte das SWR Vokalensemble mit seinen späteren Chefdirigenten Marinus Voorberg, Klaus-Martin Ziegler und mit Rupert Huber. Schon Voorberg, insbesondere aber Huber formte den typischen Klang des SWR Vokalensembles, geprägt von schlanker, gerader Stimmgebung. Viele der mehr als 200 Uraufführungen, die in der Chronik des SWR Vokalensembles verzeichnet sind, hat er dirigiert. Auf diesem Niveau konnte Marcus Creed aufbauen, als er 2003 die Position des Chefdirigenten übernahm. Dem Ensemble ging zu diesem Zeitpunkt bei Fachpresse und Publikum längst der Ruf voraus, in konstruktiver Offenheit mit den Schwierigkeiten zeitgenössischer Partituren umzugehen.

In seinen ersten Stuttgarter Jahren legte Creed, der als einer der profiliertesten Dirigenten internationaler Profichöre gilt, seine Arbeitsschwerpunkte deshalb auf das Vokalwerk von György Ligeti, Luigi Dallapiccola und Luigi Nono. Darüber hinaus setzte er die Reihe der Uraufführungen fort. Intensiviert wurde vor allem die Zusammenarbeit mit Georges Aperghis, Heinz Holliger und György Kurtág. Die Studioproduktion des SWR Vokalensembles Stuttgart erscheinen zu einem großen Teil auf CD und werden regelmäßig mit internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter (regelmäßig) der Preis der Deutschen Schallplattenkritik, der Grand Prix du Disque und der Midem Classical Award. 2009 erhielt das SWR Vokalensemble als "Ensemble des Jahres" den Echo-Klassikpreis.

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Doris Blaich
Dorothea Bossert