Musikstück der Woche 4.6.-10.6.2012

Das traurigste Musikstück der Welt

Stand
AUTOR/IN
Doris Blaich

Samuel Barber: Adagio for Strings op. 11

Wenn Sie sich mal so richtig ausweinen wollen, dann ist das SWR2 Musikstück dieser Woche ideal: Samuel Barbers hoch emotionales Adagio bewegt sich souverän an der Grenze zur Tränenseligkeit (und schreitet zuweilen mutig darüber hinweg). Die Deutsche Radio Philharmonie hat es im September 2010 in der Fruchthalle Kaiserslautern gespielt, dirigiert von Pablo González.

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Vor gut zehn Jahren gab es bei der BBC eine Umfrage, bei der die Radio-Hörer das traurigste Musikstück wählen konnten. „Gewinner“ war Samuel Barbers Adagio – mit weitem Abstand gefolgt vom Lamento der Dido aus Henry Purcells Oper „Dido und Aeneas“ und dem „Adagietto“ aus Gustav Mahlers 5. Sinfonie.

Geheimnis des Tränenpotenzials

Worin liegt das außergewöhnliche Tränenpotenzial dieses Stückes? Das langsame Tempo, die elegischen Themen und dunklen Klangfarben teilt es schließlich mit vielen anderen Stücken. Vielleicht ist es die Tatsache, dass Barbers Adagio wie nur wenige andere Musik das Gefühl der Trauer unmittelbar in Klang verwandelt: mit der Wucht, die starke Emotionen eigen ist, und gleichzeitig in aller Würde. An keiner Stelle entsteht dabei der Drang, der Trauer auszuweichen – es gibt keine Kontraste, keine Gegenthemen, nichts Grelles. Und trotzdem hat diese Trauer eine perfekte Form: die Themen schrauben sich behutsam nach oben, steigern sich in großen, wellenförmigen Crescendi und sinken dann langsam wieder zurück. Zwischendurch gibt es winzige Schluchzpausen, doch trotzdem bleibt die Musik immer im Fluss. Die Ausbrüche dieses Schmerzes sind wohl kalkuliert, es gibt keine quälenden Aufschreie oder Ausbrüche. Die Themen leisten sich Pathos – besonders mit den Seufzerfiguren, den ausdrucksstarken Sextsprüngen und den satten, archaischen Harmonien – und trumpfen dennoch nicht auf. So kann man weinend die Fassung bewahren. Der offene Schluss, der nicht zur Haupttonart zurückkehrt, sondern auf einem Sextakkord stehen bleibt, sorgt für ein stilles Fragezeichen am Ende: kein Hinwegtrösten, kein Versuch, die Tränen zu überwinden.

Barbers Adagio: Ein prominentes Trauerfeier-Stück

Das Adagio zählt zu den prominenten Beerdigungs-Musiken. Es wurde unter anderem bei den Trauerfeiern der amerikanischen Präsidenten Roosevelt und Kennedy gespielt, außerdem zur Beisetzung von Grace Kelly, Rainier III. von Monaco und Albert Einstein. Viele Radiosender setzten es ein, um der Opfer der Anschläge vom 11. September 2001 zu gedenken. Wegen seiner starken emotionalen Wirkung ist Barbers Adagio auch beim Film außerordentlich beliebt.

Ursprünglich ein Streichquartett-Satz

Ursprünglich hat Barber das Adagio als langsamen Satz für sein erstes Streichquartett op. 11 geschrieben: 1936, während eines Stipendien-Aufenthalts in Rom. Unter Beibehaltung der Opuszahl 11 hat er es wenig später für Streichorchester arrangiert. Arturo Toscanini dirigierte 1938 das NBC Symphony Orchestra bei der Uraufführung in New York. Vierzig Jahre nach der Komposition bearbeitete Barber das Adagio für achtstimmigen Chor und unterlegte die Musik mit dem Text des „Agnus Dei“ („Lamm Gottes“) der lateinischen Messe. Das Adagio ist Barbers bekanntestes Stück und – zu seinem Leidwesen – das einzige seiner Werke, das wirklich populär wurde.

Deutsche Radio Philharmonie

Die Deutsche Radio Philharmonie ist das jüngste deutsche Rundfunk-Sinfonieorchester. 2007 aus der Fusion der beiden traditionsreichen ARD-Klangkörper, dem Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken (SR) und dem Rundfunkorchester Kaiserslautern (SWR) entstanden, hat das Orchester in kürzester Zeit ein eigenes Profil gewonnen und sich seinen Platz unter den renommierten deutschen Rundfunkorchestern erspielt. Programmschwerpunkte bilden neben dem Vokalbereich das klassisch-romantische Repertoire sowie Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Auftragskompositionen – u.a. im Rahmen der Saarbrücker Komponistenwerkstatt – erweitern das Repertoire um Orchesterwerke aus allerjüngster Zeit.
Pro Saison spielt die Deutsche Radio Philharmonie rund achtzig Konzerte in Saarbrücken und Kaiserslautern, aber auch im Dreiländereck Deutschland – Frankreich – Luxemburg und in Rheinland-Pfalz. Die CD-Produktionen des Orchesters wurden mit zahlreichen renommierten Schallplattenpreisen ausgezeichnet.

Chefdirigent ist seit der Spielzeit 2011/12 der Brite Karel Mark Chichon. Er folgte Christoph Poppen, der die Position seit der Gründung des Orchesters 2007 inne hatte. Stanislaw Skrowaczewski ist dem Orchester seit vielen Jahren als Erster Gastdirigent verbunden. Mit dem spanischen Dirigenten Pablo González – dem Dirigenten unseres SWR2 Musikstücks – arbeitet das Orchester ebenfalls gerne und regelmäßig zusammen.

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Doris Blaich