Musikstück der Woche 15.11.-21.11.2010

Das Beste herausgefischt

Stand
Autor/in
Doris Blaich

Johann Sebastian Bach: Ouvertüre für Orchester Nr. 1 C-Dur BWV 1066

Bach war "Hochfürstlich-Anhalt-Cöthenscher Capellmeister", als er (um 1720) seine Ouvertüre in C-Dur schrieb. Unsere Live-Aufnahme stammt vom Februar 2008; das RSO Stuttgart spielt unter Leitung von Sir Roger Norrington.

Heute würde man es als Mischmasch oder - gelehrter - als Eklektizismus bezeichnen, in der Barockzeit war es aber üblich und keineswegs verpönt: Die Komponisten suchten sich aus der Musik ihrer Nachbarländer heraus, was sie gebrauchen konnten und machten daraus ein eigenes kreatives Stilgemisch. Der Hamburger Musikgelehrte Johann Mattheson fand dafür ein schönes Bild: er empfahl seinen Komponistenkollegen, die musikalischen Angeln in französische und italienische Gewässer zu halten und das Beste für sich herauszufischen - heraus kam dabei der "vermischte Geschmack", der charakteristisch für die Musik im Deutschland des frühen 18. Jahrhunderts ist.

Aus Frankreich fischte man vor allem Tanzsätze, die sich vom französischen Königshof aus beim Adel in ganz Europa etabliert hatten. Außerdem die dreiteilige französische Opernouvertüre; Jean-Baptiste Lully hatte ihr mit scharfen Punktierungen und rollenden Läufen ein verbindliches Vokabular verliehen. Aus italienischen Gewässern stammte die Da-Capo-Arie, die damals vorherrschende Arienform der Oper. Und auch das instrumentale Gegenstück der Arie fand Eingang in das Stilgemisch: die Ritornell-Konzertform mit Solo-Tutti-Kontrasten, die besonders Antonio Vivaldi geprägt hatte.

Italienisch und Französisch im Heimstudium

Der Komponist Johann Sebastian Bach auf einem Ölgemälde von Elias Gottlob Haußmann
Der Komponist Johann Sebastian Bach

Johann Sebastian Bach hat weder Frankreich noch Italien jemals bereist. Mit dem musikalischen Repertoire der beiden führenden Musiknationen war er indessen bestens vertraut, und er wusste die typischen Züge der französischen wie der italienischen Musik mit der gelehrten deutschen Kompositionsart auf einfallsreichste zu verbinden. Im Kopfsatz der Orchestersuite C-Dur etwa verschmelzen die Strenge der französischen Ouvertüre mit der Virtuosität italienischer Concerti, die sich vor allem im fugierten Mittelteil in den Solostimmen findet. Während die Idee von Hell-Dunkel-Kontrasten durch Solo- und Tutti-Abschnitte italienischer Herkunft ist, weist die Wahl der Soloinstrumente französische Wurzeln auf: Jean-Baptiste Lully war der erste, der in seinen Opern zwei Oboen mit einem Fagott koppelte und damit der Oboe – vordem ausschließlich ein kriegerisches Instrument – einen Platz im Orchester verschaffte.

Im Bach-Werke-Verzeichnis findet man das Werk als Nr. 1066 unter dem Titel "Ouvertüre"; weil an erster Stelle die Ouvertüre steht, die auch der gewichtigste Satz ist. Sie ist jedoch gleichzeitig das Eröffnungsstück für eine Suite - eine Folge unterschiedlicher Tanzsätze. Deshalb kann man Bachs insgesamt vier Orchester-Ouvertüren auch als Suiten bezeichnen.

Tänze - aber nicht zum Tanzen

Bachs Tanzsätze sind stilisiert; man erkennt deutlich ihre Herkunft aus der Tanzmusik, aber sie wären ungeeignet, um dazu zu tanzen. Zu wenig oberstimmenorientiert ist der musikalische Satz, zu viel Irreguläres birgt sich darin, als dass man sich mit den schwierigen Schrittfolgen der höfischen Tänze dazu bewegen könnte. Vielmehr zeichnet Bach kleine, konzentrierte Charakterporträts. So spielt er in der Courante mit dem Wechsel von Phrasen aus geraden und ungeraden Takten, changiert in der ersten Gavotte zwischen Auf- und Abtaktigkeit und hält diesem grazilen Tanz in der Gavotte II einen martialischen Zerrspiegel vor, indem er in die Violin- und Violenstimme Trompetensignale einschmuggelt.

In der Forlane, einem italienischen Volkstanz - und damit dem einzigen Tanz der Suite, der außerhalb der höfischen Sphäre angesiedelt ist - waltet ein fröhliches Durcheinander: Die Oberstimmen spielen eine lebhafte Tanzmelodie, deren rhythmische Klarheit von den Wellenbewegungen der Mittelstimmen aufgeweicht zu werden droht, und die Bässe grundieren den Satz mit harmoniefremden Tönen. Umso abgezirkelter, wie der Inbegriff höfischer Ordnung und Stilisierung wirken dagegen die zwei Menuette. Verblüffend ist der Kontrast zwischen den beiden Bourrée-Sätzen: der erste ungetrübt heiter, der zweite, nach Moll gewandte und von den Bläsersolisten vorgetragene, voll Wehmut. Den abschließenden beiden Passepieds legt Bach die selbe Melodie zugrunde; allerdings ist sie in der zweiten Passepied unter einer Oboen-Oberstimme verborgen, und man muss sich mit den Ohren ein bisschen auf die Suche machen, um die ursprüngliche Melodie zu entdecken.

Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR

Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR

Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR spielt jährlich rund 90 Konzerte im Sendegebiet des Südwestrundfunks, in den nationalen und internationalen Musikzentren und bei bedeutenden Musikfestspielen. Ein herausragender Höhepunkt in der Geschichte des RSO Stuttgart war das Konzert zum 80. Geburtstag von Papst Benedikt XVI. im Vatikan, das im April 2007 weltweit live übertragen wurde.

Das Orchester pflegt das klassisch-romantische Repertoire in exemplarischen Interpretationen und setzt sich mit Nachdruck für zeitgenössische Musik und selten aufgeführte Komponisten und Werke ein. Bis heute hat es mehr als 500 Werke uraufgeführt.

Viele namhafte Dirigentenpersönlichkeiten haben das RSO in den letzten 60 Jahren geprägt, unter Ihnen Sergiu Celibidache, Carl Schuricht, Sir Georg Solti, Giuseppe Sinopoli, Carlos Kleiber, Sir Neville Marriner, Georges Prêtre und Herbert Blomstedt. Ebenso konzertieren regelmäßig hochkarätige Solisten aller Generationen beim RSO.

Seit 1998 ist Sir Roger Norrington Chefdirigent des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart. Er hat dem Orchester ein unverwechselbares klangliches Profil verliehen durch die Verbindung von historisch informierter Aufführungspraxis mit den Mitteln eines modernen Sinfonieorchesters.

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Doris Blaich