SWR2 Musikstück der Woche vom 12.11.2012

Vollendet unvollendet

Stand
Autor/in
Doris Blaich

Franz Schubert: Sinfonie h-moll D 759, "Die Unvollendete"

Geheimnisse und Legenden umranken Schuberts "Unvollendete". Nicht einmal in der Zählung ist man sich einig: Manche zählen sie als Schuberts Siebte, andere als Nr. 8. Sicher ist jedenfalls, dass in unserem Live-Mitschnitt Michael Gielen das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg dirigiert. Das Konzert fand im Oktober 2010 im Festspielhaus Baden-Baden statt.

Geheimnisse, Rätsel und Legenden haften dieser Sinfonie an. Schubert hat nur zwei Sätze davon ausgearbeitet und sie 1822 außerordentlich sorgfältig in Partitur geschrieben. Das Manuskript endet mit einem Bruchstück des dritten Satzes, das 9 Takte umfasst. Erst 1968 (!) fand man im Archiv des Wiener Männergesangvereins die nächste Seite der Partitur: die Takte 10-20. Wer hat diese Seite abgetrennt? Und warum? Und – die viel wesentlichere Frage: Was hat Schubert davon abgehalten, diesen Torso zu vervollständigen?

Schubert!
Man weiß nicht genau, wann und wie die Noten in die Hände von Schuberts Musikerfreunden Anselm und Joseph Hüttenbrenner gerieten. Sie hüteten die Partitur wie einen Schatz. Erst 1865, fast 40 Jahre nach Schuberts Tod, ließen sie die Uraufführung der ‚Unvollendeten’ zu – eine Sensation für die Musikwelt! Kritikerpapst Eduard Hanslick schrieb begeistert: „Wenn nach den paar einleitenden Tacten Clarinetten und Oboe einstimmig ihren süßen Gesang über dem ruhigen Gemurmel der Geigen anstimmen, da kennt auch jedes Kind den Componisten, und der halbunterdrückte Ausruf ‚Schubert!’ summt flüsternd durch den Saal. Er ist noch kaum eingetreten, aber es ist, als kennte man ihn am Tritt, an seiner Art, die Thürklinke zu öffnen.“

Die Tür bleibt offen
Dass Schubert in dieser Sinfonie die Türklinke nicht wieder schloss, hat man bei der Uraufführung mit einem ‚Ersatz-Finale’ aus seiner dritten Sinfonie kaschiert. Mehrere Komponisten haben versucht, den dritten Satz weiterzuschreiben, und es gibt viele Mutmaßungen, wie ein möglicher vierter Satz beschaffen sein könnte. Aber letztlich bleibt uns nichts anderes übrig, als in der großartigen Musik der ‚Unvollendeten’ das Vollendete zu sehen.

SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg

Das Sinfonieorchester Baden-Baden Freiburg
Das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg

Das 1946 gegründete SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg identifiziert sich bis heute mit den Idealen seiner "Gründerväter", die der festen Überzeugung waren, dass die engagierte Förderung der Neuen Musik ebenso wichtiger Bestandteil des Rundfunk-Kulturauftrags ist wie der Umgang mit der großen Tradition.
In diesem Sinne haben die Chefdirigenten von Hans Rosbaud über Ernest Bour bis zu Michael Gielen gearbeitet und ein Orchester kultiviert, das für seine schnelle Auffassungsgabe beim Entziffern neuer, "unspielbarer" Partituren ebenso gerühmt wird wie für exemplarische Aufführungen und Einspielungen des traditionellen Repertoires eines großen Sinfonieorchesters. An die 400 Kompositionen hat das Orchester bisher uraufgeführt und damit Musikgeschichte geschrieben; es gastiert regelmäßig in den (Musik)-Hauptstädten zwischen Wien und Amsterdam, Berlin und Rom, Salzburg und Luzern. Von 1999 bis 2011 hat Chefdirigent Sylvain Cambreling das Orchester entscheidend geprägt. Seit September 2011 steht François-Xavier Roth an der Spitze.

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Autor/in
Doris Blaich