Konzertvideo für das Ultraschall-Festival Berlin 2021

"Appulse" von Petra Strahovnik mit dem SWR Experimentalstudio

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AUTOR/IN
SWR Classic

Corona und kein Ende in Sicht: Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass eine Konzerteinladung nach Berlin zum Ultraschall-Festival schließlich in einer Studio-Produktion enden würde?

Auf dem Programm stand unter anderem:
Petra Strahovnik
Appulse für Klavier mit Elektronik (2017)

Interpreten:
Rei Nakamura (Klavier) • Michael Acker, Maurice Oeser (Klangregie)

2017 wurden 500 Jahre Reformation gefeiert und an Martin Luthers Veröffentlichung der 95 Thesen Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum ("Abhandlung zur Klärung der Kraft der Ablässe") erinnert. Dieses Jubiläumsjahr der Reformation wurde auch in Slowenien mit zahlreichen Projekten begangen, es gab verschiedene Kooperationen zwischen slowenischen und deutschen Kulturinstitutionen. Das Goethe-Institut in Ljubljana bündelte seine Projekte unter dem Titel Luther/Trubar – Reformer und Rebellen. Hier wurde Martin Luther der slowenische Bibelübersetzer und Reformer Primož Trubar gegenübergestellt: So wie Luther für das Deutsche als Schriftsprache prägend war, hat auch Trubar mit seiner Bibelübertragung einen entscheidenden Einfluss auf die slowenische Sprache ausgeübt. Den bedeutenden Aspekt des Linguistischen bei beiden Reformern hat die interaktive Ausstellung Aufs Maul geschaut. Mit Luther in die Welt der Wörter in der Burg von Ljubljana aufgegriffen. In diesem Rahmen gab das Ensemble Experimental Ende Mai 2017 an drei Tagen Wandelkonzerte mit einem Programm, das Ideen der Ausstellung aufgriff: Slowenische und deutsche Komponist*innen haben sich in neuen Werken mit berühmten Luther-Worten, die in der Ausstellung behandelt wurden, auseinandergesetzt: So steuerte Detlef Heusinger sein Werk 4 Crossroads für E-Gitarre, Violoncello, Klavier/Synthesizer, Schlagzeug und Elektronik als Uraufführung bei und Vito Žuraj sein Stück Time-out für Gitarre und Live-Elektronik. Zudem war Mark Andre mit …hoc… für Violoncello und Live-Elektronik vertreten.

Bei dieser Konzertreihe zu 500 Jahren Reformation in Ljubljana kam auch das Werk Appulse für Klavier und Elektronik der Komponistin Petra Strahovnik zur Uraufführung. Sie wählte für ihre Musik als Luther-Wort eine Stelle aus dem Alten Testament, aus dem Buch Kohelet 3,1: "Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde. " Petra Strahovnik entschied sich bei ihrer Komposition Appulse allerdings für die Antithese zu diesem Bibelvers. Zu diesem Zweck zog sie die Kreiszahl π für Unendlichkeit heran: "Weil Zeit unterschiedlich wahrgenommen wird", hat die Komponistin erklärt. Gerade in der Zeitkunst Musik werde dies deutlich: "Selbst Wiederholungen des Gleichen verändern sich in der Wahrnehmung während des zeitlichen Verlaufs. Weil die Wahrnehmung auf unterschiedliche Aspekte fokussiert wird, auf harmonische Eigenschaften oder auf den Rhythmus zum Beispiel. " Zeit erscheint auf diese Weise gedehnt, gestaucht oder stehend in der Wahrnehmung. Solche Phänomene reflektiert Petra Strahovnik in Appulse. Mit einem ausgewählten Abschnitt aus der unendlichen Ziffernfolge von π (3,1415926…) hat sie beispielsweise rhythmische Patterns determiniert, Akkordintervalle und die Anzahl der Repetitionen der Akkorde. "Das Faszinierende an der Zahl π ist, dass es keine Wiederholungen in der Ziffernfolge gibt", erklärt Petra Strahovnik, die in den letzten Jahren wiederholt Ordnungsprinzipien ihrer Werke aus Zahlenfolgen aus π abgeleitet hat. Eine auf diese Weise systematisch organisierte Struktur bestimmt die erste Schicht von Appulse. Sie besteht aus einer rhythmisch treibenden Folge dicht gebauter Akkorde im tiefen Klavierregister, klanglich wie von Ferne und aus einem diffusen Untergrund kommend.

Darüber, als zweite Schicht, treten im hohen Klavierregister gegenrhythmische Einsätze mit metallischem, obertonreichen Charakter hinzu. Der Rhythmus dieser Schicht folgt der Übersetzung eines Briefs von Primož Turbar in Morsezeichen. Den Brief, den Petra Strahovnik dafür verwendete, verfasste Primož Trubar am 1. August 1565: Er beklagt darin die Abstumpfung und Verrohung seiner Gesellschaft und dass auf die Impulse der Künste und auf die geistliche Unterweisung nicht geachtet werde, ja sie praktisch geradezu ignoriert würden. "Dies ist genau das, was auch heute passiert. Kultur hat leider nicht die Priorität, die sie verdient", betont Petra Strahovnik. Trubar forderte in seiner Epoche, dass sich die Intellektuellen und Kunstschaffenden zusammenschließen, um Lösungsansätze für die gesellschaftlichen Probleme seiner Zeit zu bieten. Genau solch eine Solidarität wäre als konzertierte Initiative auch in unserer Zeit mit ihren Herausforderungen nötig, findet die Komponistin.

Die Klavierklänge der beiden dargelegten Schichten von Appulse werden von präparierten Saiten erzeugt. Die ausgebildete Pianistin Petra Strahovnik ist neugierig auf neue Wege der Tonerzeugung auf dem Instrument, der herkömmliche Klavierklang interessiert sie dagegen weniger. Womöglich habe sie in ihrem Leben zuviel Klavier gespielt, sie beobachte bei sich diesbezüglich einen gewissen Überdruss, gibt sie zu. Diese Haltung ist heute interessanterweise oft bei zeitgenössischen Komponist*innen zu beobachten, die am Klavier ausgebildet wurden. Aus diesem Grund sucht Petra Strahovnik neue Wege jenseits des gewohnten Klavierklangs, letztlich auch um das Klavier aus neuer Perspektive wieder für sich zu entdecken. Für Appulse wurden die Saiten mit unterschiedlich großen Magneten und Styroporschalen präpariert. Die dadurch erzeugten Klänge sind teils obertonreich und es ergeben sich Wirkungen wie bei Multiphonics, mitunter erinnern die hervorgebrachten Klänge sogar an Schlaginstrumente.

Neben diesen beiden Schichten, die vom Klavier erzeugt werden, gibt es in Appulse noch als dritte Schicht eine differenzierte Verbindung von subtilem, mitunter eher atmosphärisch als direkt wahrzunehmendem Zuspiel und als vierte Schicht zudem Live-Elektronik. Alle diese verschiedenen Schichten erfahren im Verlauf des Stücks allmähliche Veränderungen im Verhältnis zueinander. Beispielsweise nimmt die erste Schicht, jene zunächst wie entfernt oder untergründig klingende Rhythmusebene nach einiger Zeit die Oberhand, und die vormals darüber liegende zweite Schicht mit den erwähnten Morserhythmen passt sich in die erste Schicht ein. Dies vollzieht sich vor allem auch durch eine sukzessive Veränderung der Dichtegrade in diesen Schichten.

Was aber hat es mit dem Titel des Stücks, Appulse, auf sich? Der englische Begriff appulse stammt aus der Astronomie und bezeichnet eine scheinbare Begegnung zweier Himmelskörper, wenn sie auf ihren Laufbahnen von der Erde aus betrachtet vermeintlich nah beieinander liegen, eine perspektivische Überschneidung. "Enge Konjunktion" wäre der deutsche Begriff für dieses Phänomen. Im Dezember 2020 brachte solch eine Stellung auf den Umlaufbahnen die Planeten Jupiter und Saturn von der Erde betrachtet optisch nah zueinander. Auch der biblische "Stern von Bethlehem" könnte, so eine These, auf ein ähnliches Phänomen zurückzuführen sein. Petra Strahovnik sieht in solch einem optischen Aufeinandertreffen zweier Himmelskörper eine Metapher für das Zusammentreffen unterschiedlicher Systeme und Perspektiven. Genau dies ist für die Komponistin das zentrale Moment in der Konzeption und im strukturellen Aufbau von Appulse. Im Klangergebnis erzeugt dieser allmähliche Perspektivwechsel, der hörend nachvollzogen werden kann, eine faszinierende Sogkraft. Appulse dokumentiert erneut die gedankliche Konsequenz und das differenziert ausgeführte kompositorische Handwerk in der Kunst von Petra Strahovnik. (Eckhard Weber)

Die anderen Stücke des Programms

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SWR Classic