Konzertvideo für das Ultraschall-Festival Berlin 2021

"…hoc…" von Mark Andre mit dem SWR Experimentalstudio

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SWR Classic

Corona und kein Ende in Sicht: Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass eine Konzerteinladung nach Berlin zum Ultraschall-Festival schließlich in einer Studio-Produktion enden würde?

Auf dem Programm stand unter anderem:
Mark Andre
...hoc... für Violoncello und Live-Elektronik (2006)

Interpreten:
Esther Saladin (Violoncello) • Michael Acker, Joachim Haas (Klangregie)

Mark Andre lebt in Berlin, seitdem er 2005 Fellow des Berliner Künstlerprogramms des DAAD war. Der Komponist ist fasziniert von den Kontrasten und den Spuren der Teilung in dieser in vielen Aspekten so heterogenen und auf vielen Ebenen widersprüchlichen Metropole mit ihren verschiedenen Lebenswelten. Von seiner Wohnung in Friedrichshain, im ehemaligen Ostteil Berlins, kann Mark Andre mit dem Fahrrad innerhalb weniger Minuten über eine der Spreebrücken fahren und in Kreuzberg, im ehemaligen Westteil der Stadt, sein, wo eine völlig andere Atmosphäre als in seinem "Kiez" in Friedrichshain herrscht. Diese Unterschiede, die deutlich wahrnehmbaren Übergänge zwischen den verschiedenen Vierteln mit ihren eigenen Milieus, ihren historischen Spuren, erlebt Mark Andre in all ihren Ausprägungen praktisch täglich in Berlin. Solche Bruchlinien, Schwellen, Grenzmarkierungen und Zwischenräume interessieren den aus der französischen Grenzregion Elsass stammenden Komponisten auch in seiner Musik: Das, was an den Rändern passiert, nimmt er mit geschärften Sinnen auf. Er hört auf das, was zwischen den vordergründig wahrnehmbaren Klängen passiert.

So verwundert es nicht, dass in Mark Andres kompositorischem Werk Aspekte des Zwischenraums, der Schwelle und des Übergangs zentrale Kategorien sind. Ihn interessiert das, was sich zunächst nicht fixieren lässt, die Bereiche zwischen dem fest Umrissenen, das, was sich zwischen den Rändern verbirgt und an den Bruchkanten. Diese Perspektive bestimmt seine filigranen, zarten, innerlich glühenden, in ungeahnte Tiefen reichenden Klangstrukturen. Hinzu kommt bei Mark Andre die spirituelle Dimension im Kunstwerk: Als gläubiger Protestant entdeckt er diese auch in Zwischenräumen, weiß gleichzeitig um die Fragilität äußerlicher Gewissheiten und die Instabilität menschlicher Verfasstheit. Verbunden mit dem Bewusstsein einer konsequent gedachten existenziellen Schutzlosigkeit im kreativen Prozess prägt dies sein Komponieren.

Mark Andre hat seine Erforschungen von Zwischenräumen in verschiedensten Versuchsanordnungen während der letzten Jahre auch mit Mitteln elektroakustischer Klangerzeugung vorgenommen. Ein Beispiel dafür ist sein 2006 entstandenes Werk …hoc… für Violoncello und Elektronik. Der fragmentarisch anmutende, rätselhafte Titel, die Verweigerung einer direkt zu erfassenden Bedeutung, eine gewisse Kryptik, die innehalten lässt, ist ein typisches Merkmal der Stücke von Mark Andre. Im Fall von …hoc… bietet der lateinische Begriff hoc im räumlichen Sinne für "hier", "hier anwesend" oder "nahestehend" eine mögliche Assoziation für eine Lesart. Das Werk entstand in enger Zusammenarbeit mit dem SWR Experimentalstudio. In …hoc… hat Mark Andre ein technisches Verfahren angewandt, das die Grenzen zwischen analog auf dem Cello erzeugten Tönen und elektronischem Klang in den kleinsten Bestandteilen kompositorisch ausleuchtet. Diese Technik, die in …hoc… eingesetzt wurde, Convolution oder "Faltung" genannt, erlaubt es, dass beim Spiel auf dem Cello dessen klangliche Impulse live-elektronisch zum Beispiel mit verschiedenartigen Ausklängen versehen werden können. Die Klangimpulse des Cellos können auf diese Weise live-elektronisch sehr überzeugend akustisch-virtuell in unterschiedliche Klangräume projiziert werden. So als ob das Cello tatsächlich an unterschiedlichen Orten positioniert wäre: das kann etwa ein Ausklang in einem riesigen Saal sein, in einer kleinen Kammer, in einem Kirchenraum oder sogar – als fantastisches Szenarium – auch im Inneren eines Klavierkorpus. All dies wird mittels der Live-Elektronik möglich. Die Faltung arbeitet hier mit klanglichen Phänomenen, wie sie tatsächlich von akustischen Instrumenten in realen Räumen hervorgebracht werden und passt diese live-elektronisch in verblüffender Flexibilität an die auf dem Cello gespielten Klänge an. Das Verfahren erlaubt somit praktisch unendliche Möglichkeiten, Klänge in ihren kleinsten Bestandteilen zu kombinieren. Für Mark Andre ist dies das ideale Handwerkszeug, um sein sensibles Gespür für feine Übergänge und Zwischenräume kompositorisch umzusetzen. In einem Kommentar zu …hoc… hat er geschrieben: "Die Faltung repräsentiert klanglich, räumlich, morphologisch eine Art (Zwischen)Stand und Raumwechsel. Harmonische, unharmonische und geräuschhafte Klänge werden in Impulsen und Antworten ineinander verschränkt. Die Faltungen lassen sich aber auch auf einer existentiellen Ebene begreifen. Es geht um den Wechsel, den Abschied, den Anfang und das Ende von Klangtexturen, Klangfamilien und inneren Klangräumen."

Diese ineinander verschränkten Momente des Dazwischen, die Mark Andre in seinem kompositorischen Schaffen unaufhörlich beschäftigen, werden in …hoc… in neuen Gestalten wahrnehmbar: die schemenhaften Bereiche der Obertöne, die Faserungen zarter Pizzicati und sachter Bogenschläge, breit aufgefächerte Klangfacetten, wenn der Bogen auf den Saiten wischt, wenn zupackend mit schnellem oder beharrlich mit langsamen Bogenstrich gespielt wird, mit leichtem oder starkem Bogendruck die Saiten berührt werden. Insofern ist …hoc… eine vielschichtige und tatsächlich in die Tiefe gehende Erforschung des Celloklangs und seinen vielfältigen Resonanzwirkungen unter unterschiedlichen Bedingungen der Raumakustik. In der zweiten Hälfte von …hoc…wird dies auch an flächigen Klanggestalten ausprobiert, die verschieden glatte und gekörnte Texturen aufweisen. Der Celloklang erscheint im Kontext dieser neuen Bedingungen immer wieder neu. Und wie so oft bei Mark Andre wird in …hoc…, bei dieser Fokussierung auf bislang unbeachtete Aspekte des Celloklangs, die Wahrnehmung während des Hörens geschärft, die Konzentration wird angeregt und letzten Endes der Sinn auf das Wesentliche gelenkt. Gerade diese Qualität macht die Musik von Mark Andre in unserer heutigen Zeit mit ihren medial sich hysterisch überbietenden, lauten Wortmeldungen und ihren sich in rasanter Schlagzahl abwechselnden Oberflächenreizen so wertvoll. (Eckhard Weber)

Die anderen Stücke des Programms

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