Donaueschinger Musiktage 2014 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2014: "Piano Concerto"

Stand

Der Flügelsturz


Simon Steen-Andersen im Gespräch mit Bernd Künzig während der Videovorproduktion, Ettlingen, 3. September 2013

Bernd Künzig:
Der stürzende, fallende Flügel oder eine Flügel-Zerstörung – das ist fast schon ein klassisches Motiv. Man kann es im Hollywood-Kino finden, wenn man etwa an Stan und Olli denkt, es gab eine Flügel-Zerstörung bei Karl Valentin 1942 und natürlich in der Fluxus-Bewegung mit der Aktion von George Maciunas bei den "Internationalen Festspielen Neuester Musik" in Wiesbaden 1962. Ist es in Ihrem Fall ein Anknüpfen an diese Traditionen von Instrumentenzerstörung, vielleicht auch von Institutionskritik?

Simon Steen-Andersen:
Jein. Es ist selbstverständlich ein Klassiker, auf den ich mich durchaus beziehe. Aber in meinem Fall handelt es sich um eine Umdeutung. Weder die Zerstörung selbst steht im Mittelpunkt, noch ist diese als Provokation oder Kritik gemeint. Es handelt sich zunächst einmal um einen Versuch, den Moment des stürzenden Flügels und seiner dabei eintretenden Zerstörung festzuhalten. Dabei werden ungeheure Energien im Instrument freigesetzt, ohne dass dieses tatsächlich "be-spielt" wird; man könnte fast von einer "Ver-Spielung" sprechen. Die Freisetzung dieser instrumentalen Energien durch den Sturz werden in Zeitlupe festgehalten, um das Geschehen detailliert betrachten zu können. Vor uns liegt mithin eine Art Mikroskopierung eines hoch-energetischen Geschehens, wie man sie auch sonst durchaus aus der Musik kennt. Darum geht es ja meiner Ansicht nach in der Musik im Allgemeinen und in meiner Musik im Besonderen: intensive Momente aus der Nähe zu beobachten.

Bernd Künzig:
Wenn wir jetzt einmal die Idee aufgreifen, dass der Flügel herunterfällt: Natürlich wird er irgendwie beschädigt oder verzogen sein – man weiß zuvor nicht, wie das Ergebnis sein wird –, aber auf jeden Fall wird der Flügel auf irgendeine Art und Weise wieder zusammengebaut, so dass er bespielbar ist. Helmut Lachenmann formulierte, dass Komponieren bedeute, ein Instrument zu bauen. Auch hier geht es ja buchstäblich darum, ein Instrument zu bauen. Und wie ist dieses Instrument dann zu verstehen? Ist es verzogen, ist es zerstört, ist es wieder rekonstruiert? Oder ist es ein neues Instrument?

Simon Steen-Andersen:
Es ist tatsächlich eine Wiederherstellung. Allerdings wird das Instrument nicht nur nach meiner Vorstellung hergestellt. Der Sturz lässt sich ja nicht genau berechnen oder kalkulieren in Hinblick auf ein zu erzielendes Ergebnis. Tatsächlich wird sich auch vieles durch den Zufall dieses Geschehens ergeben. Dadurch wird letztendlich ein neues Instrument entstehen, mit neuen Begrenzungen und Möglichkeiten, die nicht von mir erdacht sind, sondern sich aus diesem nicht ganz steuerbaren Prozess ergeben. Im übertragenen Sinne könnte man von einem "Dogma"-Instrument sprechen (gemeint ist eine Analogie zur spontanen, zufallsbestimmten, nur partiell determinierten Dogma-Ästhetik im dänischen Kino der 1990er Jahre, Anmerkung BK), das ich dann erst einmal untersuchen und ausprobieren muss, um zu erfahren, wie ich mit ihm komponieren kann. Ich bleibe wahrscheinlich über Nacht hier in der Aufnahmehalle, um zu sehen, welche Möglichkeiten sich nun tatsächlich ergeben haben. Wie kann man die Begrenzungen ausnutzen? Was kann ich mir genau mit diesem Instrument ausdenken?

Bernd Künzig:
Nicolas Hodges wird anschließend das hier in der Aufnahmehalle "rekonstruierte", wieder hergestellte Instrument bespielen – das wird akustisch und visuell aufgenommen werden. Und diese Aufnahme geht dann in das Orchesterstück ein, das noch nicht komponiert ist, sondern erst in der Folge daraus entstehen wird. Was geschieht jetzt also mit der Aufnahme, wie wird mit diesen Klängen umgegangen?

Simon Steen-Andersen:
Diese Zeitlupenaufnahme der Slow-Slow-Motion-Kameras ist nicht der Hauptteil des Stückes; sie ist eher eine Art Präludium. Dieses soll nur ein Moment sein, der dann in ein veritables Klavierkonzert mündet, das sowohl auf einem intakten als auch auf diesem zerbrochenen Klavier gespielt wird. Das heißt: Live wird Nicolas Hodges ein intaktes Klavier spielen, jedoch gegenüber des Instruments auf einem Videoscreen, und auf dieses selbst wird die Video-Aufnahme des Flügelsturzes projiziert. Auf den ersten Blick scheint es, dass wir es mit zwei Klavieren zu tun haben, zwischen denen man sozusagen hin- und herspringen kann. Ich sehe die Situation aber anders: Für mich handelt es sich um ein Instrument, das aus einem perfekten, intakten und einem beschädigten, verbogenen Klavier besteht. Die Klangwelt dieses sozusagen kombinierten Instruments wird sich auch ins Orchester verlagern, und das Orchester wird zwischen den beiden Zuständen vermitteln. Insbesondere freue ich mich darauf, die zerbrochenen Klänge zu instrumentieren und mit dem Orchester zu imitieren. Dann wird man diese Klangwelt auch anders wahrnehmen können. Denn es handelt sich nicht mehr um eine Musik oder musikalische Sprache im Sinne eines abstrakten Ausdrucks, sondern der Vorgang wird konkret: Es ist die Nachahmung eines zerbrochenen Instruments. Und diese Nachahmung findet im und mit dem Orchester statt, und wir erleben dieses als zerbrochenes Instrument – darauf freue ich mich!

Bernd Künzig:
Die Visualität spielt in Ihren Werken eine wichtige Rolle. Sie arbeiten oft mit Videoprojektion, teilweise live, teilweise aufgezeichnet. Jetzt wird dieser Flügelsturz in Slow-Slow-Motion-Technik aufgenommen. Sie haben zu dieser Art der Verlangsamung schon einiges gesagt. Aber was verbirgt sich noch weiter hinter der Anwendung dieser komplexen Aufnahme-Technik?

Simon Steen-Andersen:
Ich mag ja gerne komplexe, hoch-energetische Momente. Aber es gibt eine Begrenzung für die Sinne. Es wird so viel in diesen zwei, drei Sekunden des Sturzes passieren, was man mit unseren gewöhnlichen Sinnen gar nicht sofort erfassen kann. Der Sturz rauscht sozusagen vorbei. Was sich hinter diesem Vorgang des Vorbeirauschens aber alles verbirgt, wird die Slow-Slow-Motion-Technik, dieses Zeitmikroskop, überhaupt erst sichtbar machen. Dabei wird das zeitlich Allerkleinste zu einer Art Großform ausgedehnt. Es gibt den auslösenden Moment des Sturzes, dann den Fall selbst, das Aufprallen und schließlich das Auseinanderbrechen des Instruments und die sich daran anschließende Beruhigung. Das ist fast schon ein Ablauf einer musikalischen Form, die aber derart beschleunigt ist, dass wir sie mit unseren begrenzten Sinnen gar nicht wahr- oder aufnehmen können. Erst durch die Wahrnehmung dieses Ablaufs durch die Zeitlupenbrille der Slow-Slow-Motion-Technik können wir den Vorgang mit seinen Elementen und Formbildungen beobachten, hören, sehen und erleben. Zugleich werden wir den Vorgang aber auch mit einem gewissen Abstand wahrnehmen können, wenn er durch die kompositorische Arbeit dann ins Orchester verlagert werden wird.

Bernd Künzig:
Wenn wir jetzt noch einmal diesen Gestus des fallenden Flügels betrachten, dann könnte man – frei nach Bruce Nauman – sagen, dass das eine Art von Skulptur ist. Nauman hat das einmal so definiert, dass eine Skulptur nicht dadurch bestimmt ist, dass man einen Stein behaut oder ein Holz besägt, um eine Form herzustellen, sondern dass die Skulptur eigentlich nur im Raum ist. Das heißt, sie besteht aus einem Raumgestus. Er hat in seinen Videoarbeiten, in denen es gar nicht um materielle Gegenstände geht, derartige Raumgesten ausgeführt, ohne eine materielle Form herzustellen. Und hier durchquert ein Flügel, ein Klang-Körper, den Raum. Wird dabei wirklich eine Klangskulptur oder ein skulpturaler Klang als Idee umgesetzt? Können Sie mit der Idee etwas anfangen?

Simon Steen-Andersen:
Ja, und zwar auf vielen verschiedenen Ebenen. Hier passiert ein Geschehen im Raum, das festgehalten wird. Und weil es in der Wiedergabe durch die Slow-Slow-Motion-Technik so langsam abläuft, ist es fast gefroren. Aber dennoch wird sich dieser eben nur scheinbar eingefrorene Ablauf bewegen. Da wir den Vorgang mit mehreren Kameras aus verschiedenen Perspektiven festhalten, können wir den Vorgang auch aus verschiedenen Raumperspektiven betrachten. Wir nehmen das Objekt und was mit ihm geschehen wird aus verschiedenen Raumperspektiven wahr, die es sozusagen umrunden. In diesem raumperspektivischen, dreidimensionalen Sinne wird der Vorgang in der Tat als Skulptur oder zumindest als Teile einer Skulptur zu sehen sein. Man kann folglich auch Klangskulptur sagen, da es ja die gestreckte Zeit der Slow-Slow-Motion-Aufnahme ist, die diesen Vorgang mit und an einem Klangkörper ausdehnen wird. Dadurch entsteht für mein Empfinden eben auch etwas Skulpturales.

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AUTOR/IN
SWR