Donaueschinger Musiktage 2015 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2015: "Sérac für Orchester"

Stand
AUTOR/IN
Johannes Boris Borowski

Johannes Boris Borowski

Gedanken während des Kompositionsprozesses zu Sérac

Handlungen und Entscheidungen (nicht jede Handlung folgt einer Entscheidung) ziehen Konsequenzen und Ergebnisse nach sich, die oft nicht unmittelbar (d.h. kausal) aus den Handlungen ableitbar sind.

Beziehung:

Was sich aufeinander bezieht und zusammen "erdacht" wurde, muss nicht unbedingt nebeneinanderstehen. Die Beziehung bleibt auch über längere Strecken hinweg bestehen.

=> Fernbeziehung

Extrem unterschiedliches Material wird vergleichbar durch die Funktion (oder Position), die es innehat.

Sérac:

2008 kamen 11 Bergsteiger am  K2 ums Leben – die Mehrzahl der tödlichen Unfälle ereignete sich am sogenannten Flaschenhals, der von Séracs umrahmt wird. (Séracs sind turmartige Formationen aus Gletschereis, welche sich an den Abbruchkanten von Gletschern bilden und oft unvorhergesehen einstürzen können.)

Es liegt mir fern, diese Tragödie künstlerisch "nachzuzeichnen".

Mich interessiert, wie aus einigen (teils unbedachten, naiven) Entscheidungen und Handlungen eine ganze Kette von Ereignissen ausgelöst werden kann, deren Eigendynamik so stark wird, dass die folgenden Prozesse nicht mehr rückführbar auf das auslösende Moment scheinen.

Mittelbarkeit <=> Unmittelbarkeit:

Etwas steht unvermittelt nebeneinander.

Die Unmittelbarkeit bezieht sich immer auf unser Verständnis, ist also zumeist eine "scheinbare" Unmittelbarkeit.

Die Vermittlung erfolgt beispielsweise auf ganz anderer Ebene, oder sprunghaft: etwas unvermittelt "Interpoliertes" bezieht sich vielleicht auf weit Vorausgehendes und ist somit in der Lage, gerade durch die scheinbare Unmittelbarkeit des Kontrasts einen Kontext, Prozess, etc. zu verändern. Der Kontrast provoziert den Hörer, welcher fast automatisch zu vermitteln versucht und meist auch eine (wenn auch weit entfernte) Verbindung findet. Darauf spekulierend kann ich als Komponist aufbauen. Ich beziehe somit etwas in die Komposition ein, was außerhalb liegt, was erst bei der Aufführung, der Rezeption entsteht. Die Komposition steht nicht isoliert für sich selbst.

Sérac als Schlüsselstelle der Expedition:

Man muss mit der Gefahr umgehen, dass der Sérac jederzeit einstürzen kann. Das "Nicht-Existente" wird so Teil der Realität. Die Möglichkeit zwingt zum Handeln.

Entdecken:

Pädagogischer Aspekt: Als Komponist entdecke ich nicht zufällig, sondern schaffe eine Umgebung, die das Entdecken ermöglicht. Doch kann der Komponist nur zum Teil lenken und wird durch eigenes Entdecken selbst gelenkt.

Sérac als Metapher:

Das Einstürzen und Verschütten versteckt bisherige Zusammenhänge und sicher geglaubte Kontexte, eröffnet aber die Möglichkeit, einen Blick auf vorher Verschüttetes zu werfen, auf Beziehungen, Kontraste etc., welche viele Dinge in einem anderen, "neuen" Licht erscheinen lassen. (explizit <=> implizit)

Geheimnisse:

Teilaspekte eines Geheimnisses müssen gelüftet werden, um das Interesse aufrechtzuerhalten. Werden die Teilaspekte wichtiger als das Geheimnis selbst, kann sich eine Dynamik entwickeln, die interessant und gefährlich-trügerisch gleichermaßen ist:

 – interessant, da hiermit ein nur kleines, unwichtiges Ding ("das Geheimnis") plötzlich Auslöser einer Kette von ungeahnten Ereignissen werden kann, welche Aufmerksamkeit, Beschäftigung, Aktivität etc. fordern;

 – gefährlich-trügerisch, da es sich um einen Betrug oder auch Selbstbetrug handelt, welcher schnell Rechtfertigung für "Ungerechtes" werden kann

Informationsdichte <=> Klangdichte

Welten entdecken:

 – nicht voneinander getrennte Welten, sondern Welten, die auseinander hervorgehen.

Etwas Existierendes wird bei der Entdeckung oder Wiederentdeckung neu erschaffen. Man bewegt sich darin, wird Teil, verändert – verändert auch sich selbst.

Frage: Kann etwas Bekanntes, etwas mit einer Geschichte, herausgelöst aus dem bekannten Kontext, als Material neu entwickelt werden? Liegt die Doppeldeutigkeit im Material selbst, als Möglichkeit, die wir erkennen?

Max Frisch, Tagebuch 1946-1949:

"... die handwerkliche Sorge verschwindet hinter der sittlichen, deren Verbindung wahrscheinlich das Künstlerische ergibt, und darum kann niemand machen, was er an den Alten bewundert: weil er es bestenfalls machen, aber nicht erfüllen kann…"

English

Thoughts while Composing Sérac

Actions and decisions (not all actions follow a decision) have consequences and results, that are often not directly (causally) derived from the actions themselves.

Relationship:

What relates to one another and is "conceived" together, need not necessarily stand alongside one another. The relationship remains existing over longer stretches.

=> Long-distance relationship 

Extremely different material becomes comparable by way of the function (or position) that it holds.

Serac:

In 2008, eleven mountain climbers died on K2, most of the fatal accidents took place at the so-called bottleneck that is surrounded by "seracs" (Seracs are tower-like formations of glacier ice that form at the edges of glaciers and can often collapse without warning.

I have no interest in artistically "depicting" this tragedy.

Instead, what interests me is how an entire chain of events can be triggered by several (unthinking, naïve) decisions and actions, developing a dynamic all their own so that the subsequent processes no longer can be traced back to the triggering moment.

Mediacy <=> Immediacy

Something stands immediately next to something else.

Immediacy always refers to our understanding, it is usually an "apparent" immediacy.

Mediation takes place for example on an entirely different level, or erratically: something immediately "interpolated" refers perhaps to something long prior and is thus in the position to change a context, a process, etc. by way of its apparent immediacy. The contrast provokes the listener, who almost automatically tries to mediate and usually finds a link (even if remote). Speculating on this, I can build as a composer. I bring something into the composition that lies outside, that emerges with the performance, with reception. Composition does not stand on its own in isolation.

The serac as a key site on the expedition:

One needs to confront the danger that the serac can collapse at any time. The "non-existent" thus becomes part of reality. Possibility forces action.

Discovery:

Pedagogical aspect: as a composer I discover (not coincidentally), but create an environment that allows for discovery. But the composer only has partial control and is in turn controlled by his own discoveries.

Serac as a metaphor:

Collapsing and burial hide prior linkages and context thought secure, but also open the possibility of casting a gaze on what was was buried, on relationships, contrasts, etc., which makes many things appear in a different, "new" light.   (explicit <=> implicit)

Secrets:

Partial aspects of a secret have to be aired to maintain interest. If the partial aspects become more important than the secret itself, a dynamic can develop that is simultaneously interesting and dangerous-deceptive.

Interesting, since in this way a small, unimportant thing (the "secret") suddenly can become the trigger of a chain of unexpected events, that demand attention, activity.

– Dangerous-deceptive, since at issue is deception or self-deception, which can quickly become a justification for something unjust.
– Density of information <=> density of sound

Discovering worlds:

Worlds not separate from another, but worlds that emerge separately.
Something existent is created anew in discovery or rediscovery. One moves within it, becomes part of it, changes it, changing oneself as well.

Question: Can something familiar, something with a history, divorced from its familiar context, be developed in a new way as material, as a possibility that we recognize?

Max Frisch, Tagebuch 1946-1949:

"The concern of a craftsman disappears behind a sense of moral care, the combination of which probably results in the artistic, and for this reason nobody can approach what they marvel about the old: because he can at best do it, but not complete it."

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Johannes Boris Borowski