Donaueschinger Musiktage 2000 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2000: "Quadraturen V" ("Musik")

Stand
AUTOR/IN
Peter Ablinger

Ich muss es leider eingestehen: Am Anfang war der Neid. Der Neid auf die Maler. Bestimmte Methoden der Malerei schienen mir für die musikalische Komposition grundsätzlich unzugänglich zu sein. Besonders Methoden der Wirklichkeitsaneignung und der Mimesis. Die uneinnehmbare Hürde ist und bleibt dabei die fotorealistische Malerei, die Wiedergabe einer fotografischen Vorlage mit den traditionellen Mitteln Pinsel, Farbe, Leinwand. Der Fotografie entspricht im Bereich des Klanges zwar die Schallaufzeichnung, eine schallrealistische Wiedergabe mittels der traditionellen Orchesterinstrumente ist aufgrund der inneren Struktur der Instrumentalklänge jedoch unerreichbar. Die Instrumente können nur sich selbst wiedergeben.

Die andere Frage betrifft den Vergleich zwischen Foto und Schallaufzeichnung selbst. Im visuellen Bereich sind wir daran gewöhnt, auch die allergewöhnlichsten Dinge als ästhetisch wahrzunehmen. In jedem Wohn- oder Wartezimmer können Aufnahmen aus dem städtischen Alltag an der Wand hängen. Einen vergleichbaren Umgang mit akustischen Dingen gibt es nicht. Niemand legt sich zu Hause eine CD mit Autolärm auf. Ich denke, das liegt zumindest zum Teil daran, dass wir im Bereich des Klingenden noch immer an einem prinzipiellen, und tief verwurzelten Unterschied von Musik und klingender Umwelt festhalten und letztere immer noch eher wie Tiere wahrnehmen: ausschließlich in Bezug auf ihre Funktion. Kein Wunder also, daß wir sie nicht "schön" finden.

An diesem Punkt setzen die "Quadraturen" an.

Quadraturen nenne ich eine Methode, die die Darstellung jedweder Art von Tonaufnahmen betrifft und mit der Grobrasterung von Fotografien verglichen werden kann. Frequenz f und Zeit t werden in einen Raster aus kleinen Rauschfeldern zerlegt, deren Format zum Beispiel 1 Sekunde (Zeit) mal 1 Sekunde (Intervall) sein kann.

Die ersten Anregungen zur technischen Umsetzung stammen vom Ganztonfilter des Freiburger Experimentalstudios, dessen "Freeze"-Funktion als spektrale Rasterung interpretiert werden kann. Eine Einladung des IEM Graz bot unter den glücklichsten personellen Bedingungen (Robert Höldrich, Winfried Ritsch, Thomas Musil) die Möglichkeit, meine Ideen zu verwirklichen. Zuerst wurde ein Halbtonfilter mit der Option auf grundsätzliche Variabilität der Intervallbreite konstruiert. Daran knüpfte sich die Verwirklichung der zeitlichen Rasterung als einer mehr oder weniger raschen Folge von statischen Analysen über das gesamte Spektrum. Anfang 1997 waren die ersten zweidimensionalen Rasterungen in Echtzeit realisierbar. Aus derselben Zeit stammt der Name für das Projekt, das sich bis zum Ende desselben Jahres zu einem umfangreichen Entwurf ausgeweitet hatte.

Realisiert, geplant oder gerade in Arbeit sind:

Quadraturen I "Stadtportrait Graz" (2 Versionen),
"Sprache ist"
Vorstudien auf Tonträger

Quadraturen II "Reden des 20. Jahrhunderts"
Installationsstück für 6 Lautsprecher auf hohen Sockeln,
auf der Grundlage gerasterter Reden von Hitler, Lenin, Kennedy, Fidel Castro, Gandhi, M. Luther King

Quadraturen III "Wirklichkeit"
Studien für mechanisches Klavier

Quadraturen IV "Selbstportrait mit Berlin"
für Ensemble und Zuspiel-CD

Quadraturen V "Musik"
für Orchester

Die Farbe der Zeit

Klangfarbe nehmen wir meist nur als "Erzählung" war, als Abfolge von Geräuschen und Klängen. Wir nennen es Farbe, aber es ist eine Folge. Zum Beispiel: ein Violinton mit seinem Kratzgeräusch am Anfang, seinem charakteristischen Einschwingvorgang, den Unregelmäßigkeiten der Bogenführung, seine leicht oszilierende Obertonstruktur, das den Tonanteil begleitende Streichgeräusch, das Geräusch des Bogenabhebens und der Nachklang von Instrument und Saiten – alles wahrgenommen als zeitliche Folge, als erzählte Zeit. Aber: wir sprechen von Klangfarbe, vom "Klang der Violine", anstatt von der "Klangabfolge der Violine". Denn tatsächlich: schon wenn wir einen Ausschnitt eines Violintons, den stehenden Klang ohne Ein- und Ausschwingen, ohne Bogenwechsel hören, können wir nicht mehr erkennen um welches Instrument es sich handelt. Und vielmehr noch, wenn tatsächlich alle zeitlichen Bestandteile des Violinklanges gleichzeitig vorhanden sind (wie in den Verdichtungen), und nun tatsächlich eine Farbe bilden, empfinden wir diesen Klang als denaturiert, als verfremdet: wir erkennen ihn nicht wieder!

Selbst Rauschen nehmen wir zeitlich war: das An- und Abschwellen von Wind und Meer etwa. Statische Klänge modulieren wir noch durch kleinste Kopfbewegungen. Raum selbst – den wir uns landläufig als gerade das Nicht-Zeitliche denken – nehmen wir nur im Vergleich zweier Positionen, Ortungen war, also als Zeit. Einen wirklich statischen Klang dagegen gibt es entweder nicht – oder wir könnten ihn nicht bemerken. Aber erst ein solcher wäre wirklich Klangfarbe und nicht Klangfolge.

Ein einziges Stück Mauer

Es gibt keine andere Möglichkeit, ständig das Gleiche zu machen, nur ein einziges Stück zu schreiben, als sich ununterbrochen zu erneuern, es ständig auf eine andere Weise entstehen zu lassen. Würde ich im objekthaften Sinn (also objektiv) immer das Gleiche machen, würde sich dieses Objekt mit der Zeit verändern: nämlich im Verhältnis zu mir. Es würde sich mit der Zeit gegen mich wenden. (Etwas, das am Anfang neu war, ist nach einiger Zeit alt geworden; etwas, das einmal ein Anfang war, wird beim So-Weitermachen zum Objekt, das sich von dieser Anfänglichkeit entfernt hat...)

Man kann daraus ablesen, was es mit dem "Objektiven" auf sich hat. Etwas, das heute objektiv erscheinen mag, hat vielleicht auch morgen noch seine Objektivität: aber eine völlig andere! (Was bedeutet schon das Leben vor dem Mauerfall, nachdem sie plötzlich nicht mehr da ist. Vorher und nachher sind abolut inkommensurabel geworden. Niemand kann wirklich heute noch etwas über vorher sagen; man kann nur etwas über den Blick der Nachherigen auf das Vorherige sagen; aber das ist etwas völlig anderes. Und selbst wenn ein Kaspar Hauser des Vorher mitten unter uns auftauchen würde, könnten wir ihn nicht verstehen...)

Die Fabrik

Jetzt ist es schon wieder einige Jahre her, dass ich das Komponieren in gewissem Sinn an den Nagel gehängt habe: Komponieren, als das einsame, lärmempfindliche und die Bandscheiben malträtierende Vorsichhinbrüten an einem Schreibtisch, auf welchem Notenpapier liegt, das per Hand mit Tinte vollgeschrieben wird – eigentlich ja wirklich nicht die nächstliegende Art Musik zu machen!

Statt dessen ziehe ich es vor, gemeinsam mit anderen Menschen an Stücken oder Installationen zu arbeiten. Mit dem ganzen personellen Stab eines elektronischen Studios etwa oder mit Einzelpersonen, die entweder programmieren können oder Notenschreibprogramme beherrschen, die Spezialisten für Elektroakustik sind oder die den Platz und die Erfahrung haben, mit mir weniger vertrauten Materialien, Objekten, Medien, Räumen und Umgebungen zu arbeiten. Natürlich träume ich manchmal von der Factory. Aber ganz so weit habe ich es noch nicht gebracht, und im Grunde entspricht die Unbeweglichkeit der klassischen, hierarischen, an einen ständigen Ort gebundenen Werkstatt ohnehin nicht den Anforderungen. Die Vernetzung und räumliche Streuung meiner Partner erlaubt ständig neue Verknüpfungen und an die aktuelle Aufgabenstellung angepasste Beziehungen untereinander.

An den "Quadraturen V" beteiligt sind im Wesentlichen das IEM Graz, Nader Mashayekhi und Thomas Musil. Mit letzterem gemeinsam habe ich wohl die meisten Stücke der letzten Jahre hergestellt. Nach meinem Tod wird er behaupten, dass er es war, der alle meine Stücke komponiert hat: Recht hat er! Also beschreibe ich im Folgenden was er komponiert hat: "Quadraturen V" ist – als Komposition – eine Maschine zum Komponieren von Orchesterstücken. Am einen Ende werfe ich eine Kassette ein, mit einer Aufnahme von irgendetwas darauf... am anderen Ende der Maschine kommt die fertige Partitur heraus: schön wär's! Aber immerhin: die Komposition besteht nicht nur aus dem, was am Ende dabei herauskommt, die Komposition ist – auch – der Produktionsprozess selbst, angefangen von der Konzeption über die Transformation von Analysedaten in Notenwerte bis zur Herstellung von Partitur und Orchesterstimmen.

Electric Chair 1 - 10

Die Produktionsweise kann durchaus als Antwort auf das Orchester gelesen werden. Das Orchester ist ein Reproduktionsapparat, kein Produktionsapparat. In Quadraturen V ist die Reproduktion selbst zum Gegenstand der Reproduktion geworden. Gegenstand der Quadratur – der Rasterung eines Ausgangsmaterials zum Zweck der Wiedergabe durch die Orchesterinstrumente – ist diesmal kein Umweltlärm, keine Sprache, es ist Musik. Musik, weil dadurch die vage Chance der Erkennbarkeit des Ausgangsmaterials besteht. Es geht darum, einen Nicht-Ort zwischen Nur-Klang-Hören und Ein-Musikobjekt-Erinnern zu erzeugen. Nicht-Ort, weil es diesen Ort nicht gibt: allenfalls wird es gelingen zwischen Hören und Erinnern zu Oszillieren. Das Objekt ist die von Hanns Eisler komponierte Hymne der ehemaligen DDR. Zehn mal je ein Satz daraus. Das Objekt musste bekannt sein, um erinnert werden zu können. Wechselnde Rastertempi in unterschiedlichen Konstellationen rücken die Möglichkeit der Erkennbarkeit einmal näher heran, einmal weiter weg. Der spektrale Raster dagegen bleibt invariant 3/4 tönig, das heißt 8 Töne pro Oktave. Das ist nahe bei den sieben "nicht-äquidistanten" Tönen der diatonischen Leiter und auch weit genug entfernt davon. Das heißt aber, es ist bei weitem nicht alles getan, um das "Original" erkennbar zu machen. Es soll nur nahe genug an den Vorhang herantreten – und gleich wieder verschwinden. (Hoffentlich gibt es möglichst viele Zuhörer, die die Programmhefte erst nach der Aufführung studieren; ich würde nämlich zu gerne wissen, ob es auch nur eine einzige Person gibt, die das "Original" erkennt, heraushört, ohne zu wissen, was es zu hören gibt.)

"Wenn man einen Stuhl malen will, sollte man den Raum zwischen seinen Teilen malen, nicht den Stuhl selbst" (de Kooning). Was ich möchte, das ist ein Klang als Fenster. Dass also der Klang ein Fenster ist oder als Fenster wirkt – und nicht: ein Fenster voller Klang, oder gar die Vorstellung, dass der Klang wie ein Fenster in unserer sonstigen Umgebung ist – im Gegenteil: der Klang selbst soll als Fenster wirken, oder vielleicht: im Klang soll sich ein Fenster öffnen. Wie eine Öffnung in der Architektur, bzw. in allem was uns umgibt, einschließlich des Klingenden selbst. Der Klang soll da sein, um durch ihn hindurch zu schauen. Der Klang oder das Hören – das ist dabei dasselbe. Der Klang/das Hören als Fenster, als Membran, als Öffnung, oder: als Loch, als Riss. Warum also habe ich mich gerade für dieses Sujet entschieden? Die Antwort, dass sich die spektrale Flächigkeit der Hymne besonders gut eignet für mein Verfahren, genügt Herrn Köhler nicht. Dann halt so: damit das SWR-Orchster wenigstens einmal "Auferstanden aus Ruinen" spielt – ist das besser? Was hätten Sie mir vorgeschlagen? Ich wähle Motive aus. Wie ein Maler, der morgens aufsteht und sich fragt: Male ich heute ein Blumenstilleben, ein Landschaftsbild, oder wähle ich ein zeitkritisches Sujet? Nun, und wenn der Maler ganz zufällig gerade einen Malauftrag für den deutschen Bundestag bekommt, wählt er natürlich das Blumenstilleben, oder?

Noch eine Antwort: ich lebe seit 1982 in Berlin.

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Peter Ablinger