Donaueschinger Musiktage 2007 | Bericht

Workshop mit dem ensemble recherche: Eine geheime Dramaturgie

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Dorothee Riemer

Eine Premiere in Donaueschingen: Fünf junge Komponisten hatten ein Jahr Zeit, um Werke für die Musiktage zu schreiben. Im Workshop mit dem ensemble recherche und dem Experimentalstudio Freiburg konnten sie ihre Ideen immer wieder ausprobieren. Jetzt ist Zeit für ein Fazit.

Genau vor einem Jahr – am Tag eins nach den Donaueschinger Musiktagen 2006 – setzten sich fünf junge Komponisten, die Festspielleitung, das ensemble recherche und das Experimentalstudio Freiburg zusammen und begannen, ein Konzept für ein gemeinsames Konzert zu entwickeln. Seitdem haben sich die Beteiligten immer wieder getroffen, die entstehenden Kompositionen ausprobiert und diskutiert – ein Experiment, bei dem zu Beginn nicht klar war, ob tatsächlich ein abendfüllendes Programm herauskommen würde. Aber es hat geklappt: Vier von fünf geplanten Kompositionen sind rechtzeitig fertig geworden und werden am Samstag in Donaueschingen aufgeführt. Festivalleiter Armin Köhler und ensemble recherche-Mitglied Martin Fahlenbock ziehen Bilanz.

Für Festivalleiter Armin Köhler ist es ein Erfolg, dass am Samstag von fünf Projekten vier auf die Bühne kommen. Gehofft hatte er, dass zwei oder drei gute Stücke bei der Zusammenarbeit entstehen würden. Jetzt werden vier Stücke aufgeführt, deren künstlerische Qualität Köhler durchweg als sehr hoch einschätzt: "The Name of the Song [Dear Me (Bobok)]" von François Sarhan, "...sentiers tortueux..." von Michael Pelzel, "Nothing Integrated" von Simon Steen-Andersen und "Sonata a sette" von Francesco Filidei.

Die Komponisten konnten mit den Musikern des ensemble recherche experimentieren, nach neuen Klängen suchen und diese Experimente mit den anderen Workshop-Teilnehmern diskutieren. Das hat in jedem Werk Spuren hinterlassen. Für Festivalleiter Armin Köhler sind die Werke durch eine "geheime Dramaturgie" verbunden, die aber jeder Hörer am besten selbst erleben sollte. Nur einen kleinen Hinweis mag Köhler geben.

Dass der fünfte Komponist der Gruppe nicht fertig geworden ist, bedauert Armin Köhler, denn Pär Frid hatte viele spannende Ideen. Einige konnten allerdings nicht realisiert werden. Unter anderem hatte sich der junge Schwede vorgestellt, dass die Musiker mit Kameras am Kopf Fallschirm springen sollten – passend zum Thema Vogelflug. Dazu kam es nicht. Zu einer Aufführung der Komposition von Pär Frid soll es aber auf alle Fälle kommen – nur eben nicht mehr in Donaueschingen. Das ensemble recherche und der SWR werden eine andere Gelegenheit für die Uraufführung suchen. Für Armin Köhler gehört allerdings Scheitern auch zum Konzept.

Für Martin Fahlenbock vom ensemble recherche ist die Aufführung der Workshop-Werke etwas anderes als eine "normale" Uraufführung. Mit den Kompositionen von François Sarhan, Michael Pelzel, Simon Steen-Andersen und Francesco Filidei fühlen sich die Ensemble-Musiker viel stärker verbunden, weil sie den Entstehungsprozess hautnah miterlebt haben. Und nicht nur das: Sie haben auch Einfluss auf die Stücke genommen. Während der regelmäßigen Arbeitsphasen haben die Komponisten mit den Musikern ausprobiert, welche Obertöne mit der Flöte spielbar sind, welche Geräusche die Klappen der Bassklarinette erzeugen oder welche Gongs und Glocken beim Perkussionsinstrumentarium eingesetzt werden können. Auch die einzelnen Musiker-Persönlichkeiten haben die Werke entscheidend mitgeprägt, erzählt Martin Fahlenbock: "Die Stücke wären nicht so geworden, wie sie geworden sind, ohne das ensemble recherche." Darin sieht Martin Fahlenbock auch den roten Faden, der sich durch den Konzertabend des Workshops zieht. In allen Stücken stecke auch ein wenig ensemble recherche.

"Roter Faden" oder "geheime Dramaturgie" – die gemeinsame Arbeit scheint Verbindungen zwischen den Werken geschaffen zu haben. Worin diese Verbindungen genau bestehen – zu erleben am Samstag im "Konzert 06" um 11.30 und 15.00 Uhr.

... sentiers tortueux ...

Elektronik ist mittlerweile ein normales Element in neuer Musik. Vier von fünf Projekten im ensemble recherche-Workshop verwenden Elektronik. Da ist es schon fast außergewöhnlich, dass Michael Pelzel darauf verzichtet.

Elektronik ist mittlerweile ein normales Element in neuer Musik. Vier von fünf Projekten im ensemble recherche-Workshop verwenden Elektronik. Da ist es schon fast außergewöhnlich, dass Michael Pelzel darauf verzichtet. In seiner Komposition "...sentiers tortueux..." werden die Instrumente traditionell eingesetzt – das heißt: fast traditionell. Kleine Veränderungen gibt es doch: Die Streichinstrumente und die Klaviere werden präpariert. Büroklammern verfremden den Klang der tiefen Saiten der Streicher, Metallnieten klemmen zwischen manchen Klaviersaiten. Ein Klavier ist ein Sechstel-Ton tiefer gestimmt.

Die Präparierungen in Pelzels Werk sind wichtig, denn es geht ihm um die Verbindung und Verschmelzung von Klängen. Während der Workshop-Arbeit beschäftigte er sich vor allem mit der Komposition von Klang-Etüden: Studien für Streich-Ensemble, Bläser-Trio oder Klavier-Duett. Später kombinierte er die verschiedenen Instrumente und erprobte die Klang-Verbindungen. Das Ergebnis ist eine Komposition für zwei Klaviere, Streichtrio, Oboe, Flöte und Percussion. Die Möglichkeit im Workshop so intensiv nach Klängen zu suchen und mit ihnen zu arbeiten, fand Michael Pelzel sehr gut. Aber die Workshop-Arbeit brachte auch Probleme – und zwar Luxus-Probleme: zu viele Ideen.

Die vielen Ideen sind aber nicht verloren. "Ich denke, dass das Projekt vielleicht noch mehr Früchte trägt, wenn sich das Ganze dann gesetzt hat."

"The Name of the Song [Dear Me (Bobok)]"

François Sarhan wäre gern Barock-Komponist: Er will nicht nur über der Partitur sitzen, sondern auch auf der Bühne stehen.

Die Vorstellung einer künstlerischen Einheit von Komponist und Interpret hat Sarhan in seinem Stück "The Name of the Song [Dear Me (Bobok)]" verwirklicht. Er interpretiert sein Stück zusammen mit den Musikern des ensemble recherche.

Seine Instrumente: Elektronik und die Stimme. Denn in seiner Komposition spielen Stimmen und Sprache eine wichtige Rolle. Ausschnitte aus verschiedenen Texten werden rezitiert: Ein improvisiertes Kinderlied, ein Dialog über das Stück selbst und ein Ausschnitt aus "Through the Looking Glass" von Lewis Carroll. Zusammen mit dem Komponisten sprechen auch die Musiker die verschiedenen Textteile. Diese Aufteilung ergab sich erst während der Workshop-Arbeit, als Sarhan feststellte, dass drei der Musiker auch als Improvisationsgruppe auftreten und so das Sprechen auf der Bühne gewöhnt sind. Die schöne Singstimme der Geigerin Melise Mellinger inspirierte Sarhan dazu, sie zu Beginn ein Lied singen zu lassen.

Gleichzeitig spielt sie auf einem ungewöhnlichen Instrument, einer Stroh-Violine. Augustus Stroh erfand vor ungefähr 80 Jahren dieses Instrument, um für die damalige Aufnahmetechnik ohne Verstärker einen kräftigeren Geigen-Ton zu erzeugen. Die Stroh-Violine wird zwar wie eine Violine gespielt, hat aber keinen hölzernen Resonanzraum. Stattdessen werden die Schwingungen vom Steg auf eine Membran übertragen und durch einen Schalltrichter verstärkt. Die Stroh-Violine klingt so ein bisschen wie die alte Grammophon-Musik.

Zu François Sarhans Stück "The Name of the Song [Dear Me (Bobok)]" gehören nicht nur Konzertaufführungen, sondern auch eine Installation. Direkt neben dem Konzertsaal in der Donauhalle A hat Sarhan einen Raum mit Stimmen gefüllt. Wie Installation und Konzert zusammengehören, erklärt der Komponist:

Der Installationsraum ist nur spärlich mit wenigen Glühlampen erleuchtet, es gibt wenig, was von den Stimmen ablenken kann, die aus den verschiedenen Ecken des Raumes zu hören sind. Hier können Sie sich in die Installation "einhören".

Sonata a sette

Die Komposition, die Francesco Filidei während des Workshops mit dem ensemble recherche entwickelt hat, trägt den traditionellen Titel "Sonate" – das ist auch schon das einzige traditionelle Element in seinem Stück.

Denn Filideis Sonate ist auch ein bisschen Theater: Drei Musiker bedienen beispielsweise Computertastaturen, an die aber keine Computer angeschlossen sind. Allein das Klappern der Tasten gehört zur Komposition. In ihren Anzügen sehen die Musiker tatsächlich ein wenig wie Schreibtischtäter aus – bis sie gegen Ende des Stücks Flamenco tanzen.

Die Komposition stellt – so Filidei – ihren eigenen Produktionsprozess dar. Am Ende sind alle so erschöpft, dass die Instrumente ihre Form verlieren – wie in einem Traum. Aus diesem Grund werden die Instrumente in Filideis Stück auch nicht auf traditionelle Weise gespielt, sondern in "Maschinen" umgewandelt.

Die Blasinstrumente hängen, vom Piccolo- bis zum Bass-Instrument, in einem Gestell und die Musiker blasen ohne ein Mundstück hinein. Die Streichinstrumente liegen vor den Musikerinnen. Zusätzlich sind noch einige Saiten wie Wäscheleinen auf einen Metallrahmen gespannt. Ihre Resonanzkörper sind Blechdosen.
So ungewöhnlich diese Verwendung der Musikinstrumente ist, so fest hat Francesco Filidei an der traditionellen Sonatenform festgehalten.

Den Flamenco, der das Stück beschließt, führen alle Musiker gemeinsam auf, indem sie zusammen den typischen Rhythmus klatschen und mit den Füßen stampfen. Auf diese Idee kam Filidei, weil er zur Zeit in Madrid lebt und komponiert und dort den Flamenco ständig hautnah erlebt.

Nothing Integrated

"Nothing Integrated" heißt das Stück, das Simon Steen-Andersen im Workshop mit dem ensemble recherche entwickelt hat. Der Titel ist vieldeutig und schwer zu übersetzen. Dinge, die nichts sind und gleichzeitig doch etwas sind – damit setzt sich Steen-Andersen in seinem Stück auseinander.

Das ist nicht so abgehoben, wie es klingt. Es geht um Löcher, geschlossene Augen und Sinustöne. Simon Steen-Andersen erklärt das "Nichts-sein":

Ein Loch enthält nichts, aber ein Bild eines Lochs ist doch etwas – das ist die Grundidee. Ein Bild in der Musik? Die Besonderheit an Steen-Andersens Komposition ist, dass auch Bilder in die Musik integriert werden. Video-Bilder sind eigentlich nichts Neues in der Neuen Musik. Oft sind die Bilder aber ein zusätzliches Element, eine weitere Ebene neben der Musik. Bei Steen-Andersens Stück sind die Video-Bilder keine Zusatzelemente, sondern ein Parameter der Musik.

Bilder als Parameter der Musik – das heißt, dass die Bilder auch von den Musikern erzeugt werden und die Kameras wie Instrumente "bespielt" werden. Die Musiker haben kleine Geräte in der Hand und filmen Körperteile und Notenblätter in Nahaufnahme. Der Einsatz der Kameras ist in der Partitur festgehalten.

Dieses besondere Projekt konnte Steen-Andersen verwirklichen, weil er im Workshop mit dem ensemble recherche arbeiten konnte. "Die Grundidee war da und hat darauf gewartet, realisiert zu werden." Das Ausprobieren, Experimentieren und Diskutieren fand der junge Däne sehr gut – und zwar als Filter: Sehr viele Ideen landeten im Papierkorb, weil sie sich in der Arbeit mit dem Ensemble als nicht realisierbar erwiesen. Die Ideen, die die Fantasie im "stillen Komponier-Stüblein" entwickelte, wurden im Workshop wieder der Wirklichkeit angepasst. "Ein Workshop muss genauso sein," sagt Simon Steen-Andersen und: "der Workshop war echter Luxus! Bisher musste ich immer selbst auf- und abbauen." In Donaueschingen machen das Mitarbeiter des Experimentalstudios Freiburg.

Festivaljahrgänge
Donaueschinger Musiktage 2007
Themen in diesem Beitrag
Konzert am 20.10.2007, Francesco Filidei, François Sarhan, Michael Pelzel, Simon Steen-Andersen, Ensemble Recherche, Nothing Integrated für extrem verstärkte Klarinette, Violoncello, Schlagzeug und Live-Video, …sentier tortueux…für zwei Klaviere in Sechsteltonabstand und Ensemble, The Name of the Song [Dear Me (Bobok)] für Streichtrio, Fender rhodes, Schlagzeug, Synthesizer und Elektronik, Sonata a sette Ritratto di compositore con finale flamenco für Instrumentalmaschinen, Bühnencomputer und Elektronik
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Dorothee Riemer