Musikstück der Woche mit dem vision string quartet

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Hätte Haydn gedacht, dass ein Teil seines "Kaiserquartetts" einmal die deutsche Nationalhymne wird? Wohl kaum! Schade eigentlich, dass das gesamte Werk dadurch oft ins Hintertreffen gerät. Das ehemalige SWR2 New Talent "vision string quartet" spielte es in vollständiger Fassung im Oktober 2016 in Schloss Waldthausen.

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Weit mehr als nur eine Hymne 

Die Variationen über die Melodie "Gott erhalte Franz den Kaiser" gehören bis heute zum Beliebtesten und Bekanntesten, was Joseph Haydn komponiert hat. Schade eigentlich, dass das gesamte Werk darüber oft ins Hintertreffen gerät. Das ehemalige SWR2 New Talent "vision string quartet" spielt es in vollständiger Fassung im Oktober 2016 in Schloss Waldthausen. 

Unverstellte Heiterkeit 

Mit nur fünf Noten zaubert Joseph Haydn ein Lächeln auf's Gesicht, einen Sonnenstrahl in's Gemüt. Es ist der Anfang des so genannten "Kaiserquartetts", eines seiner letzten, großen Werke für vier Streicher. Von oben springt die Melodie auf die Dur-Terz, die ihrerseits schnell als Rampe fungiert. Alles landet auf einem C, dem Grundton – aber nur kurz, fast flüchtig. Mit wenigen Noten ist alles gesagt, was gesagt werden muss. 

Eine kleine Geste, kaum zwei Sekunden lang, aufgebaut aus einfachsten musikalischen Bausteinen. Und doch, oder gerade deswegen, ganz große Kunst. Kompositorische Kunst, wenn man beobachtet, wie Haydn die Stimmen führt, etwa wie die Doppelgriffe der zweiten Geige den Bratschenton im ersten Takt umschließen. Dramaturgische Kunst, wenn man entdeckt, was Haydn aus kleinen Einfällen wie diesem im Verlauf des Satzes macht, wie er Echowirkungen schafft, Dialoge, Fortentwicklungen, Kontraste, Kombinationen. Musikalische Kunst, wenn man darüber staunt, wie unverstellt die Heiterkeit, der Humor in diesem Satz und aus einer winzigen Keimzelle heraus seine Wirkung entfaltet. 

Leben in vier Systemen 

Haydn hat dieses Quartett geschrieben, als er 65 Jahre alt war, für unsere heutigen Verhältnisse also im Rentenalter. Mit Streichquartetten kannte er sich zu der Zeit bestens aus. Denn seit seiner Jugend hatte er die Gattung geschätzt und sie immer weiter fortentwickelt. Das Opus 76, in dem das C-Dur-Quartett an dritter Stelle steht, bildet der Abschluss einer langen Lebensreise in diesem Vehikel auf vier Systemen. 

Gott erhalte … die Gesanglichkeit! 

Eine andere Art des Musizierens lag Haydn, dem einstigen Chorknaben am Wiener Stephansdom, ebenfalls seit frühesten Tagen am Herzen: das Singen. Ich bin mir nicht sicher, warum er ausgerechnet sein "Kaiserlied", die Anfang 1797 vollendete Hymne auf den Text "Gott erhalte Franz den Kaiser", zum Thema des zweiten Satzes dieses Quartetts gemacht hat. Doch vermutlich ging ihm der gesangliche Fluss des Lieds nicht aus dem Kopf, der zu seiner Essenz gehört und auch den enormen Erfolg der Hymne herbeigeführt haben dürfte. Die Texte und Nationen wechselten im Lauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte. Die Melodie blieb. 

Vier Variationen über das "Gott erhalte" hat Haydn also in Streichquartettfassung aneinandergereiht. Es gibt dabei durchaus gewagtere, kompositorisch ambitioniertere Variationen. Bemerkenswert ist aber für mich nicht die Technik, sondern die Stimmung: wie fragil, persönlich und tatsächlich schön das stolze Lied wirkt (vor allem in der letzten Variation mit ihrer Ausweitung in die fast himmlische Höhe). Das alles klingt in meinen Ohren wie ein intensiver Ausdruck der Empfindung. Ein Singen mit innerer Stimme. Meilenweit entfernt vom Gegröhle nach mancher politischer Kundgebung heutzutage, das die selben Noten zur Grundlage hat. 

Scherz und Triolengewitter 

Der dritte Satz besteht formal noch immer aus einem Menuett, auch wenn die Musik schon deutliche Züge eines Scherzos trägt. Das hervorstechendste humoristische Element sind die markanten Vorschläge zum Ende des Rahmenteils, die deutlich an ein herzliches Lachen erinnern. Ganz zurückgenommen ist der Mittelteil in Moll. Es ist das nachdenkliche, verhaltene Moll. 

Im Finale des Quartetts präsentiert sich dann die andere Seite jenes Tongeschlechts: ein eruptives, dramatisches und ungestümes Moll, das auch nicht ohne den berühmten Neapolitaner auskommt, ein markanter, aus der Reihe fallender Akkord, der schon lange vor Haydn Sinnbild für Tod und Verderben war. Nach einem Triolengewitter aus Irrungen und Wirrungen wechselt der Satz dann plötzlich nach C-Dur. Auch wenn damit formal die Ordnung wieder hergestellt ist, der schroffe Gestus bleibt. Ein packendes, fast etwas brutales Ende für ein Werk, das so zart und gewitzt begonnen hatte. Nicht in der allseits bekannten Hymne, sondern in dieser Wandelbarkeit und Bandbreite der Musik liegt für mich der Reiz an diesem großartigen Musikstück. 

Autor: Felix Werthschulte

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