Buchkritik

Abdulrazak Gurnah – Nachleben

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AUTOR/IN
Jörg Magenau

Vom Ende des 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts reicht der neue Roman von Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah. „Nachleben“ ist ein Epochenbild des kolonialen Zeitalters in Ostafrika, erst unter deutscher, dann unter britischer Herrschaft. Das Buch öffnet Räume, die man staunend durchschreitet, nur sein Stil ist etwas altmodisch.

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Eine unnötige editorische Notiz begleitet den Roman

Muss man bei so einem Buch und so einem Autor wirklich vor Risiken und Nebenwirkungen warnen? Am Ende findet sich eine editorische Notiz. Der Penguin Verlag weist darauf hin, dass dieser Roman in einer „Welt der Vorurteile und Anfeindungen gegen Menschen anderer Ethnie, Hautfarbe oder Religion“ spiele. Schlimmer noch: Es kämen „Diffamierungen und Stereotype“ zur Anwendung, deren „unverfälschte, nicht beschönigende Übersetzung jedoch zur Charakterisierung der Figuren“ gehöre.

Nun sind bekanntlich nicht immer alle Romanfiguren immer nur nett. Und das könnte hier umso mehr zutreffen, als der Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah die koloniale Geschichte seines Heimat- oder vielmehr Herkunftslandes Tansania thematisiert, vor allem die Jahre unter deutscher Herrschaft zwischen 1885 und 1918, die von zahlreichen Aufständen und deren gewaltsamer Niederschlagung geprägt waren.

Davor zu warnen ist allerdings so, als würde man einen Kriegsroman mit einer Entschuldigung dafür versehen, dass da geschossen wird. Dann müsste in Zukunft jeder Roman mit einer Entschuldigung für unschöne Szenen und böse Worte versehen, weil die doch nun auch mal zur Welt und also auch zur Literatur gehören.

Gurnahs kultivierter Ton ist weit entfernt vom Affront

Bei Gurnah, lange Jahre Professor für englische und postkoloniale Literatur an der University of Kent, ist die editorische Bemerkung ganz besonders unsinnig. Denn abgesehen von einigen deutschen Militärs, die ihre schwarzen Untergebenen mit wüsten Worten beschimpfen, kultiviert er einen eher sanften, einfühlsamen Ton.

Über weite Strecken verblüfft vielmehr die Abwesenheit rassistischer Vorurteile, ganz so, als hätten die Menschen gar keine verschiedenen Hautfarben. Jedenfalls ist davon nur selten die Rede. Die Kraft seiner Literatur besteht genau darin, jede einzelne Figur in ihrem individuellen, ganz besonderen Menschsein lebendig werden zu lassen. Es ist eine Literatur, die die Verhältnisse eher verschönt, als sich an der Darstellung nackter Brutalität zu ergötzen.

Gurnah erzählt mir großem, epischem Atem. Das ist von der ersten Zeile an zu spüren.

Khalifa war sechsundzwanzig Jahre alt, als er den Kaufmann Amur Biashara kennenlernte. Zu der Zeit arbeitete er in einer kleinen Privatbank, die zwei Brüdern aus Gujarat gehörte. Von Indern geführte Privatbanken waren die einzigen, die sich auf das Gebaren der einheimischen Kaufleute einließen und Geschäfte mit ihnen machten; alle größeren Geldinstitute legten Wert auf Dokumente, Sicherheiten und Garantien, was den einheimischen Kaufleuten nicht immer passte.
(aus: Nachleben)

Schon ist man mitten drin in der ostafrikanischen Kolonialgesellschaft mit ihren Handelsbeziehungen nach Indien. Doch das Bankwesen spielt im weiteren Verlauf keine Rolle mehr. Der Kaufmann Amur Biashara stirbt bald, und der freundliche Buchhalter Khalifa, dessen indische Herkunft wie der Auftakt eines großen Familienromans in aller Breite dargestellt wird, ist nur im ersten Kapitel die Hauptfigur. Dann gibt er den Staffelstab weiter an Ilyaz, einen jungen Mann, der als Kind weggelaufen und auf eine deutsche Missionsschule geraten war, wo er Lesen und Schreiben und die deutsche Sprache erlernt hat.

Er ist den Deutschen so verbunden, dass er sich, als der Erste Weltkrieg beginnt, freiwillig meldet, um für die Kolonialmacht gegen die Engländer zu kämpfen. Ilyas lässt seine kleine Schwester zurück, die er unter die Obhut von Khalifa stellt. Doch dann ist er bis zum Ende des Romans verschwunden, spielt allerdings als Abwesender und Vermisster weiter eine Rolle.

Erst ganz am Ende – aber da sind wir dann bereits in den 1950er Jahren angelangt – macht sich sein Neffe, der nach dem vermissten Onkel ebenfalls Ilyas heißt auf die Suche und findet seine Spur im Nazi-Deutschland, wo sie im KZ Sachsenhausen endet.

Die Handlungsstränge sind großzügig angelegt

Wenn es eine afrikanische Erzähltradition gibt, an die Gurnah anknüpft, dann ist es diese Umwegigkeit und die Geduld, auch Sackgassen und Nebenstrecken bis zum Ende abzuschreiten. Man durchquert diesen Roman wie eine geräumige Residenz, geht von Zimmer zu Zimmer, von Kapitel zu Kapitel, von Ereignis zu Ereignis.

Die Zeit des ersten Weltkriegs wird also nicht, wie man vermuten könnte, aus Ilyas Perspektive erzählt, sondern anhand einer weiteren, neuen Figur. Hamza sieht so gut aus, dass der deutsche Offizier der Schutztruppe ein Auge auf diesen Askari wirft und ihn zu seinem persönlichen Diener macht. Die homoerotische Aufladung ist deutlich, bleibt aber unterdrückt. Einzelne lange Blicke, ab und zu eine scheue Berührung, das ist alles. Nähe sucht dieser Offizier aus Marbach am Neckar, indem er dem Afrikaner Deutsch beibringt und ihm am Ende der gemeinsamen Zeit ein Buch von Schiller schenkt.

Schwer verletzt, weil ein wütender Feldwebel ihn mit dem Säbel niederschlägt, überlebt er den Krieg und findet Unterkunft und Arbeit beim Kaufmann Biashara – inzwischen hat der Sohn die Geschäfte übernommen – und dem Buchhalter Khalifa, wo er die Schwester des vermissten Ilyas heiratet und mit ihr eine kleine Familie gründet. So laufen die verschiedenen Erzählstränge dann doch zusammen.

Ein differenziertes Bild des Kolonialismus

Auffallend an diesem Epochengemälde sind die kleinbürgerlich-mittelständischen Verhältnisse, in denen der Roman angesiedelt ist, aber mehr noch die Ambivalenz, mir der die Kolonialherren betrachtet werden. Sie sind nicht nur brutale Unterdrücker, sondern stehen auch für Bildung und Kultur und gesellschaftliche Entwicklung. Das gilt vor allem für die Briten, die nach dem Ersten Weltkrieg das Mandat für Ostafrika übernehmen.

Anstatt bestenfalls Dienst nach Vorschrift zu machen, nahm die britische Kolonialverwaltung ihre Verantwortung und das Mandat sehr ernst. Vielleicht lag es am glücklichen Zusammentreffen verantwortungsbewusster Beamter oder an der Zugänglichkeit einer Bevölkerung, die nach der Herrschaft der Deutschen, den vielen Kriegen und den daraus resultierenden Hungersnöten und Epidemien erschöpft war und sich anstandslos fügte, solange man sie in ruhe ließ. Jedenfalls hatten die Briten keine Guerillas und keine Banden zu fürchten und konnten sich ungestört der Verwaltung der Kolonisierten widmen.
(aus: Nachleben)

Passagenweise liest sich der Roman wie ein Geschichtsbuch, das durch lebendige Einzelbeispiele und Schicksale illustriert wird. Dieses etwas betuliche, formal unambitionierte Erzählen ist sich ganz und gar selbstverständlich.

Es ist nicht von der Postmoderne und von keine Ironie angekränkelt, kennt keine Probleme der Erzählperspektive oder auktorialer Allwissenheit. All das steht außer Frage. Die Geschichte geht ungebrochen ihren Gang durchs Jahrhundert. Man kann sich da hineinfallen lassen wie in ein altes Federbett. Es trägt, es wärmt, es ist solide und lebendig, aber auch ein bisschen altmodisch.

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Jörg Magenau