Karl-Sczuka-Preis 2018

Martin Brandlmayr: Vive les fantômes

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AUTOR/IN
Martin Brandlmayr

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Erinnerung und Wiederholung – für Martin Brandlmayr wichtige Elemente in der kompositorischen Arbeit. Auch in seinem Hörspieldebüt tauchen sie auf und geben Struktur und Form. Verwandtschaften entdeckt Bandlmayr beim Philosophen Jacques Derrida, der immer wieder zu Wort kommt. Er spricht von "Gespenstern" - Brandlmayr erinnert sich an jene, die ihn in seinem Schaffen geprägt haben: Miles Davis, Billie Holiday und Thelonious Monk - aber auch Filme wie "Sans Soleil" von Chris Marker und Hitchcocks "Vertigo".

In einer Gesellschaft, die tendenziell versucht, alles Uneindeutige und nicht Einzuordnende auszublenden oder an den Rand zu drängen, kann "Vive les fantômes" als Aufruf verstanden werden, die „Gespenster“ – die „von uns verdrängten mehrdeutigen Schwellenwesen“ – im Leben willkommen zu heißen und sich lustvoll mit ihnen zu beschäftigen.

Eine Vielzahl von akustischen Momentaufnahmen (Field-Recordings, Sprachfetzen, Musik etc.) bilden ein Netzwerk, eine in sich verwobene Struktur, in der immer wieder Motive auftauchen, sich aufeinander beziehen und Verbindungen herstellen. Eine Vielheit von Musik und Klang, ein Spiegelkabinett, eine Echokammer, die sich mit steigender Entfernung zu einem Rauschen verdichtet. Als Gespenster einer vergangenen Zeit tauchen die Tonaufnahmen in immer neuer Gestalt auf, manchmal ähnlich den Elementen einer Fuge, werden permutiert und verändert, in neuer Umgebung gesehen, aus neuer Perspektive betrachtet. Die Rhythmik und der Klang des Schlagzeugs mit seinen erweiterten Klangmöglichkeiten bilden einen Rahmen, sie verbinden, verknüpfen und stellen einen musikalischen Kontext her.

Momentaufnahmen als Hörspiel
Mit den Stimmen von Miles Davis, Jacques Derrida, Billie Holiday, Thelonious Monk u.a.
Komposition und Realisation: Martin Brandlmayr
(Produktion: SWR 2018)

Podiumsgespräch bei der Preisverleihung in Donaueschingen

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Martin Brandlmayr über seine erste Hörspielarbeit

Ich habe auf zwei Ebenen gearbeitet. Zum einen innerhalb der vielen kleinen Mikroformen, also der Detailarbeit eines Arrangements, zum anderen auf der Ebene der großen Form, auf der ich immer wieder ganze Szenen wie bei einem Filmschnitt verschoben und zueinander in Beziehung gesetzt habe. Der Blick auf das große Ganze war immer wieder notwendig, eigentlich der Blick von außen: So tastete ich mich an die große Form heran. Im Endeffekt hätte es viele Möglichkeiten gegeben, die verschiedenen Einzelteile wie ein Puzzle zusammenzusetzen, und tatsächlich gibt es nicht die einzige und richtige Version – sondern ein potenzielles Kontinuum an ständig wieder Auftauchendem, neu Dazukommendem und Verschwindendem. Mit meiner Gruppe „Radian" hatte ich schon 2014 zu Chris Markers La Jetée einen Livescore mit Sprecher erarbeitet. Auch hier geht es um Erinnerungen, ein Verwirrspiel, ein Verwischen der Zeiten. In Sans Soleil taucht unter anderem auch Alfred Hitchcocks Vertigo auf, ein Film, der wiederum mit der Verschiebung von Zeiten und Realitäten arbeitet. Als ich letztes Jahr mit „Radian" auf Tour war und in San Francisco Halt machte, besuchte ich auch einen Originalschauplatz von Vertigo, die Mission Dolores. Ich nahm dort einige Fieldrecordings auf. Diese finden sich nun zum Teil in meinem Hörspiel wieder.

Schleifen faszinieren mich – immer wieder an die selben Orte zurückzukehren (als reale oder imaginierte Reise), die selbe Musik zu hören, den selben Film anzusehen, zu sehen wie sich Orte verändern, wie sich die Musik verändert, wenn sie in unterschiedlichen Räumen gespielt wird, wie sich ein Stück verändert, jedes Mal, wenn es aufs Neue interpretiert wird. Ein lebendiger Prozess. Alles entsteht immer wieder aufs Neue und in neuer Gestalt.

Ich fand es sehr spannend, Miles Davis und Thelonious Monk virtuell noch einmal zusammenkommen zu lassen. Ich näherte mich als Fan und Bewunderer. Mit ihnen dann wirklich virtuell zu spielen war etwas ganz Besonderes. Mein Part ist eher ein ergänzender, Zwischenräume füllender, kommentierender. Am Anfang in der langen Passage, in der fast ausschließlich Material aus Live at the Fillmore East geschnitten ist, spiele ich dann auch wirklich richtig mit. Es war schon ein bisschen wie eine Zeitreise ins New York der beginnenden 1970er - mit dabei zu sein im Fillmore East als Teil dieser fantastischen Band.

Die Fieldrecordings sind in der Zeit „gefrorene" Bewegung. Ich habe sie als musikalisches Material behandelt, Frequenzen, Rhythmen, Klang. Das weiße Rauschen der Straßengeräusche, Melodien der menschlichen Stimmen der Passanten, Akzente der Schritte. Diese Klangobjekte habe ich neben einem Editierungsprozess auch instrumental ergänzt. Die Akzente der Schritte, das Rattern der über Fliesen rollenden Koffer vermischen sich mit den Akzenten der Trommeln, das Beserlwischen auf der Snaredrum mit dem Rauschen der Straßen- geräusche.

Andererseits handelt es sich hier aber auch um Assoziationsräume. Konkrete Klänge, die an Erinnerungen gekoppelt sind, meine eigenen, persönlichen – aber weil es bekannte und identifizierbare Klänge sind, sind sie offen auch für die Hörer*innen, die wiederum ganz andere Assoziationen, innere Bilder erleben.

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Details zum Wettbewerb 2018 und die Jury-Begründung

2018 wurden 74 Wettbewerbsbeiträge von 94 Bewerbern aus 17 Ländern eingereicht. Über die Zuerkennung des Preises hat am Donnerstag, 12. Juli 2018, in Baden-Baden eine unabhängige Jury unter Vorsitz der ehemaligen Kulturstaatsministerin Christina Weiss entschieden. Weitere Jurymitglieder waren Marcel Beyer, Michael Grote, Helmut Oehring und Margarete Zander.

"Der Karl-Sczuka-Preis 2018 geht an das Stück „Vive les fantômes“ von Martin Brandlmayr. In seinem Debüt als Radiophoniker führt der Komponist und Schlagzeuger Brandlmayr ein imaginäres Zwiegespräch mit den Phantomen seiner eigenen künstlerischen Biographie. Aus musikalischen und sprachlichen O-Tönen öffnet er uns einen poetischen Assoziationsraum, den er mit seinem Instrumentarium umspielt und kommentiert. Eine faszinierende Einladung zur Wiederbegegnung mit den eigenen Erinnerungen."

Der Autor

Martin Brandlmayr, geboren 1971 in Bad Ischl/Österreich, studierte Schlaginstrumente an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Er lebt als Schlagzeuger und Komponist in Steinbach am Attersee und ist u. a. Mitglied der Gruppen Radian, Polwechsel und Trapist. Mit Radian hat er seit Mitte der 1990er-Jahre sieben Alben veröffentlicht und tourte weltweit. Arbeitet im Grenzbereich zwischen elektronischen und akustischen Klangwelten, intensive Auseinandersetzung mit dem Schlagzeug als Groove Instrument einerseits und als erweiterter Klangkörper andererseits.

Vive les fantômes Interview mit Martin Brandlmayr über dessen Hörspieldebüt

Wir sind, als Teil einer Realität, die nicht endgültig fassbar ist, ständig von "Gespenstern" umgeben.

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