Es ist der 4. August 2024: Im Dressurviereck von Versailles zelebrieren Isabell Werth und ihre lackschwarze Stute Wendy de Fontaine ihre Kür bei den Olympischen Spielen. Umso länger der Ritt dauert, desto intensiver werden die 15.000 Zuschauerinnen und Zuschauer in den Bann der beiden gezogen. Nahezu mühelos meistert Wendy die schwersten Lektionen. Passend zur spürbaren Leichtigkeit fängt Isabell Werth losgelöst an mitzusingen - zu den Klängen von Barry Manilows Song "Mandy", der kurzerhand zu "Wendy" wurde. Das Publikum klatscht im Takt der Musik mit.

Auf den letzten Metern kommt Isabell Werth aus dem Strahlen nicht mehr raus. Sie reckt die rechte Faust in die Luft und lobt Wendy überschwänglich. Nachdem die beiden am Tag zuvor schon Gold mit der deutschen Equipe bejubeln durften, gewinnen sie in der Kür Silber - hinter Team-Kollegin Jessica von Bredow-Wernld und ihrer Dalera. "Die Spiele sind einfach fantastisch", sagt Werth anschließend im Interview: "Hier mit Gold und Silber nach Hause zu fahren, sprengt meine Erwartungen. Und dann diese Atmosphäre, es ist unglaublich."
Werth und Wendy erst seit Anfang des Jahres ein Paar
Der Erfolg ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass Isabell Werth die Stute erst seit Anfang des Jahres reitet. Zuvor hatte Andreas Helgstrand im Sattel von Wendy gesessen. Doch nachdem eine TV-Dokumentation im November 2023 erschütternde Szenen im Stall des Dänen enthüllte, wurde der Olympia-Bronzemedaillen-Gewinner von 2008 vorerst von Turnieren ausgeschlossen. Auf den Filmaufnahmen waren unter anderem Pferde mit blutenden Wunden durch massiven Sporeneinsatz und aggressives Reiten durch Bereiter zu sehen.
So "inakzeptabel" diese Szenen waren, wie Andreas Helgstrand es in einem Sportschau-Interview selbst sagte, so differenziert versucht Isabell Werth das Ganze immer wieder zu betrachten. "Dass schlechte Bilder aufgetaucht sind, das ist Fakt", betont sie. Auch Isabell Werth machen die jüngsten Skandale im Reitsport teilweise sprachlos. Allerdings sei der Erfolg mit Wendy nie ohne eine "exzellente Ausbildung" der Stute möglich gewesen und auch nicht, "wenn es dem Pferd vorher schlecht gegangen wäre".
Positive Veränderungen in den vergangenen Jahren
Für Isabell Werth gebietet es die Fairness, die Vorarbeit von Andreas Helgstrand immer wieder zu betonen. Auch wenn es in der Öffentlichkeit sicherlich leichter wäre, das nicht zu tun. Vor allem in den sozialen Netzwerken schaukelt sich die Kritik am Reitsport immer wieder hoch. Es wird wild - oft anonym und aggressiv - diskutiert. "Es ist ohne Frage, dass die konstruktive und sachliche Kritik unbedingt notwendig ist und auch schon in den letzten zehn Jahren für eine positive Veränderung gesorgt hat", findet Isabell Werth. Wichtig sei, sich immer wieder bewusst zu machen, dass die Skandale Ausnahmen und nicht der Regelfall seien.
Insgesamt sieht sie den Dressursport auf einem sehr guten Weg. "Ich glaube, dass die Bedingungen rund ums Pferd und die Bedingungen im Sport auf den Turnieren nie besser waren als heute", erzählt die Olympiasiegerin auf der Pressekonferenz vor den Stuttgart German Masters. Vor allem die Olympischen Spiele in Paris seien Werbung für den Pferdesport gewesen. "Mir geht es darum, auch die Bereitschaft der Transparenz zu zeigen. Wir werden nicht jeden Kritiker überzeugen können. Es gibt Menschen, die nicht akzeptieren können und wollen, dass Pferde im Reitsport eingesetzt werden", so Isabell Werth.
Erstes gemeinsames Hallenturnier für Werth und Wendy
Bei den German Masters möchte Isabell Werth wieder für den Reitsport werben. Es gehe darum, die guten Momente zu multiplizieren: "Wir müssen einfach versuchen, durch guten Sport, die Menschen mitzuziehen." Diesen guten Sport möchte sie im Weltcup in Stuttgart mit ihrer Ausnahmestute Wendy zeigen. Es wird der erste Auftritt seit Paris und das erste gemeinsame Hallenturnier überhaupt sein. "Wendy ist jetzt langsam auf dem Rückweg und richtig on fire. Das ganz klare Ziel ist das Top-10-Finale in Stockholm in zwei Wochen. Ich glaube, es wird ihr einfach gut tun, ein bisschen in den Rhythmus reinzukommen", erzählt die 55-Jährige.
Die Stimmung kann das ein oder andere Pferd elektrisieren. Ich habe aber das Gefühl, die Pferde werden nicht nervös, sondern sind positiv angespannt.
Vergangenes Jahr war Wendy noch mit Andreas Helgstrand in Stuttgart zu sehen gewesen. Für die beiden wurde es Rang sechs im Weltcup, den Isabell Werth mit Emilio gewann. Stuttgart ist eins der Erfolgsturniere der Rheinbergerin: Zehn Mal konnte sie schon die Kür und 17 Mal den Grand Prix Special gewinnen. "Stuttgart bringt exzellente Bedingungen mit sich", erzählt sie und freut sich auf den "Hexenkessel" Hanns-Martin-Schleyer-Halle: "Wir haben eine Stimmung, die besser nicht sein kann. Das Publikum ist fantastisch hier."
Werth auch mit Hengst D'avie von Lisa Müller in Stuttgart
Neben Stute Wendy bringt Isabell Werth auch Hengst D'avie mit nach Stuttgart, das Pferd von ihrer Schülerin Lisa Müller. Mit ihm möchte sie um den Titel "German Dressage Master" (Sonntag, 9:30 Uhr) reiten. "Er ist schon auf sehr hohem Niveau und auch schon erfolgreich mit Lisa unterwegs. Aber da gilt es ein bisschen Stabilität und Erfahrung reinzubekommen", erklärt Isabell Werth den gemeinsamen Start. Und wenn sie wisse, wie sich der Hengst in der Prüfung anfühle, könne sie ihre Schülerin auch noch besser mit Tipps unterstützen.
Wie lange Isabell Werth noch von Erfolg zu Erfolg reiten wird, weiß sie selbst nicht so genau. Immer wieder taucht die Frage nach einem möglichen Karriereende auf, so auch im Vorfeld der Stuttgart German Masters. "Solange ich den Spaß an der Sache und am Wettbewerb habe, und wettbewerbsfähig bin, werde ich sicherlich noch ein bisschen weiter machen. Ich habe da keine Jahreszahl", erklärt sie. Ein Ziel aber seien die Weltmeisterschaften 2026 in Aachen. Danach werde sie in Ruhe sehen, wie es weiter gehe und legt schmunzelnd nach: "Wenn ich hier zur PK im Rollator ankommen muss, dann werde ich über ein Karriereende nachdenken."