“Telefon Doweria”

Telefonseelsorge auf Russisch

Stand
AUTOR/IN
Pirmin Styrnol

Wenn das Telefon klingelt, dann geht sie ran. Manchmal klingelt es nur zweimal pro Schicht, manchmal auch zehnmal. “Das ist ganz unterschiedlich”, erzählt Olga. Ihren Nachnamen möchte sie nicht nennen. Alle ehrenamtlichen Mitarbeiter von “Telefon Doweria” arbeiten anonym.

Seit mehr als zwei Jahren ist Olga für das russischsprachige Seelsorgetelefon tätig, zwei bis dreimal im Monat ist sie im Einsatz. Vor über 20 Jahren kam Olga als sogenannte Russlanddeutsche nach Berlin, geboren wurde sie in Kasachstan. Russisch sei ihre Muttersprache, erzählt die studierte Psychologin in perfektem Deutsch.

Das “Telefon Doweria”, was auf Deutsch so viel heißt wie “Vertrauen”, ist ein Angebot der Diakonie Berlin Brandenburg schlesische Oberlausitz. Russischsprachige Menschen können dort anonym anrufen und von ihren Problemen berichten. “Unsere Hauptaufgabe ist das Zuhören”, erzählt Olga. “Wir hören ihre Sorgen, lassen die Leute aussprechen. Wir vermitteln immer das Gefühl, verstanden zu werden.” Der Ablauf ist immer derselbe: “Das Telefon klingelt, wir nehmen den Hörer ab, begrüßen den Menschen und fragen, wie wir helfen können.” Die Themen sind dabei völlig verschieden. “Es geht um Einsamkeit, um Alltagssorgen, um Dinge die auf der Arbeit passieren. Es sind sehr individuelle Themen.”

Auch Anrufe aus der Ukraine und aus Russland

“Im Idealfall schaffen wir es, dass der Mensch sich nach dem Telefonat besser fühlt als vorher. Meistens ist das so. Am Ende sprechen die Leute oft ihren Dank dafür aus, dass sie gehört wurden, dass ihnen Zeit gewidmet wurde”, erzählt Olga. Natürlich spielt seit Februar 2022 der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine eine große Rolle. Viele Anrufer stammen ursprünglich aus der Ukraine oder aus Russland oder rufen sogar direkt aus dem Kriegsgebiet an. Nach Beginn des Krieges fragten viele Ukrainer beispielsweise nach Fluchtmöglichkeiten und Perspektiven in Deutschland und dem restlichen Europa. Doch auch russischstämmige Menschen wenden sich häufig an die Hotline. Dass dabei auch kontroverse Meinungen ausgesprochen werden, ist klar. Dennoch ist Olga wichtig: “Wir sind nicht dazu da, den Menschen eine Meinung zu diktieren. Wir versuchen, den Anrufer zu verstehen.” Manchmal sei das natürlich “superschwierig”, gibt sie zu.

Trauer, Trauma, Einsamkeit

Doch auch wenn der Krieg derzeit zu vielen Sorgen bei russischsprachigen Menschen in Deutschland führt - auch abseits des Krieges gibt es nach wie vor Gesprächsbedarf: “Es gibt natürlich Themen, die häufiger in den Telefonaten auftauchen”, berichtet Olga. Oft gehe es um “Trauer, Trauma, Einsamkeit, Depression. Suizid natürlich auch.” Vor allem Letzteres bereite allen Telefonistinnen und Telefonisten immer große Sorgen: “Dass man das nicht richtig erkennt und dass man nicht sofort oder auf die richtige Weise hilft.” Um in solchen Momenten gut zu reagieren, erhalten alle freiwilligen Mitarbeiter eine Ausbildung, bevor sie ans Telefon dürfen. Zudem gibt es regelmäßig Supervisionen, also Beratungsstunden, im Kreis der Mitarbeiter. “Ein bis zweimal pro Monat versammeln sich alle Volontäre und wir besprechen unsere Sorgen und unsere Fragen”, erzählt Olga. Dieser Austausch sei wichtig, um selbst gesund zu bleiben. Immerhin belasten sich die Ehrenamtlichen jeden Tag mit den Sorgen und Nöten anderer Menschen.

“Ganz am Anfang, als ich noch ganz frisch war am Telefon, da hatte ich den Eindruck, dass der Mensch, der am Telefon ist, Drogen nimmt. Und ich konnte das nicht vermeiden. Das hat mich mitgenommen”, erinnert sich Olga. “Er hat über seine Ängste gesprochen, die durch diese Drogen entstanden sind. Das war hart.” Was aus ihrem “Patienten” wurde, kann sie nicht sagen, denn wenn der Anrufer auflegt, dann ist der Kontakt beendet - es sei denn, er ruft nochmal an. “Wenn er nochmal angerufen hat, dann habe ich ihn nicht erkannt und er hat nichts gesagt”, so Olga. Da beide Seiten am Telefon anonym bleiben, ist ein zweites Gespräch nur durch Zufall möglich.

Ein Selbstmord führte zum Seelsorgetelefon

Die Gründung des Seelsorgetelefons liegt bereits viele Jahre zurück. “Es gibt eine Geschichte, eine traurige Geschichte”, erzählt Olga. Eines Abends sei ein junges Mädchen zu einem Pastor in die Kirche gekommen und habe mit ihm sprechen wollen. Doch der Pastor hatte bereits Feierabend und bat das Mädchen deshalb, ihn am nächsten Tag zu besuchen. “Am nächsten Tag hat er erfahren, dass sie sich umgebracht hat. Deshalb setzte er eine Anzeige in die Zeitung: Bevor Du Dir dein Leben nimmst, sprich mich zu jeder Uhrzeit an.” So kommt es, dass der Pastor Anrufe von Menschen erhält, die Hilfe brauchen - der Beginn der Telefonseelsorge. Mittlerweile läuft es so: In drei Schichten wechseln sich die Telefonseelsorger pro Tag ab, zwei Leitungen sind dann gleichzeitig besetzt. “Die meisten Anrufe finden Abends statt”, weiß Olga.

Seit den 90er Jahren existiert die russischsprachige Hotline “Telefon Doweria” bereits. Der Zustrom russischsprachiger Migranten aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und die Rückkehr der Russlanddeutschen ins gesamtdeutsche Bundesgebiet führten damals in vielen Regionen zu Überforderung - sowohl bei den Einheimischen, als auch bei den Zugezogenen.

Noch immer Probleme mit der Integration

Doch noch immer fühlten sich viele Menschen nicht gut integriert, erzählt Olga. “Sie fühlen sich nicht verstanden. Das ist leider sehr oft das Thema. Dass sie kein Deutsch können, oder sich nicht angenommen fühlen.” Viele Anrufer kämen aus kleinen Städten oder Dörfern, wo die Integration nicht so einfach möglich sei wie in Großstädten wie Berlin, sagt sie. ”Es gibt vielleicht nicht viele Möglichkeiten, eine Arbeitsstelle zu finden. Dadurch wird man in die Gesellschaft nicht integriert, lebt in seiner geschlossenen Gesellschaft.” Aus Angst vor der Sprachbarriere beim Kontakt mit Deutschsprachigen bilden sich häufig geschlossene Gruppen. Die Menschen hätten zwar gesellschaftliche Kontakte, “aber unter Russischsprachigen. Gleichzeitig fühlt man sich dann nicht so angenommen, wenn man die Sprache nicht spricht. Das ist ein Teufelskreis.”

Auch um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, gibt es das "Telefon Doweria". Ein Ort der Sicherheit, wenn auch nur über den Hörer. Seit kurzem bietet die Diakonie auch den “Chat Doweria” an, eine Seelsorge via Chat. Olga selbst aber bleibt am Telefon. “Wir geben den Anrufern so viel Zeit wie sie brauchen. Es kann auch sein, dass wir zwei Stunden lang sprechen. Natürlich können wir am Telefon nicht alles wissen und erfahren, wir sehen den Menschen nicht, sehen seinen Gesichtsausdruck nicht, seine Emotionen, sehen nicht, wie er reagiert, ob er angespannt ist. Man hört vieles an der Stimme, aber natürlich nicht alles”, gibt sie zu. Wenn sie beim Telefonat das Gefühl habe, dass der Anrufer weitere psychologische Hilfe brauche, dann gebe sie ihm die richtigen Kontaktdaten. “Wir haben Kontakte mit psychiatrischen Diensten und Therapeuten, die wir gerne weitergeben.” Ob der Mensch sich dann mit diesen Diensten in Verbindung setze, sei dann seine eigene Sache.

Einen großen Wunsch hat Olga: “Dass es noch mehr Menschen gibt, die als Freiwillige bei der Telefonseelsorge mitarbeiten.” Dann könne das Telefon noch stärker besetzt werden. Denn russischsprachige Hilfesuchende gibt es auch in Deutschland momentan viele.

Diakonie Deutschland gehört zu den Unterstützern der ARD-Mitmachaktion WIR GESUCHT – das Projekt. Unsere weiteren Unterstützer sind: AWO Bundesverband e.V., Deutscher Gewerkschaftsbund, Caritas Deutschland, das Netzwerk nebenan.de und ver.di - Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft.

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