Zwei Hände, eine hält eine Spritze, die andere hält eine Albinomaus kopfüber am Schwanz.

Medizinethik

Braucht es heute noch Tierversuche?

Stand
INTERVIEW
Prof. Jan Tuckermann
MODERATOR/IN
Ralf Caspary
Ralf Caspary
ONLINEFASSUNG
Elisabeth Theodoropoulos

Es gibt immer mehr ausgeklügelte Methoden, die Tierversuche ersetzen könnten, beispielsweise Simulationen von Organen. Doch werden Tierversuche damit überflüssig?

Tierschutzorganisationen fordern mittels einer Bürgerpetition, welche im EU-Parlament diskutiert wird, ein vollständiges Verbot von Tierversuchen. Viele Forschende sagen jedoch, dass Versuche mit Tieren noch immer unverzichtbar sind.

Das Thema Tierversuche ist umstritten. Es wird auch diskutiert auf dem Endokrinologie Kongress, der vom 5. bis 7. Juni in Baden Baden stattfindet. Endokrinologie ist die Lehre von den inneren Drüsen.

SWR2 Impuls Moderator Ralf Caspary im Gespräch mit Prof. Jan Tuckermann, Leiter des Instituts für Molekulare Endokrinologie der Tiere an der Uni Ulm.

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Brauchen wir noch Tierversuche?

Jan Tuckermann: Ich meine: Ja, weil wir immer noch neue Dinge mithilfe von Tierversuchen entdecken, die wir vorher nicht gewusst haben und die wir in tierversuchsfreien Ersatzsystemen noch nicht nachbilden können.

So wurde zum Beispiel gerade dieses Jahr im Knochen Lymphgewebe gefunden, anhand von transgenen Mäusen. Und jetzt kann man im Menschen nachgucken, wie diese Organsysteme in dem Knochen vorhanden sind. Und das kann ganz neue Therapiemöglichkeiten bringen. Man kann dieses Wissen benutzen, um tierversuchsfreie Ersatzmethoden zu entwickeln und zu verfeinern. Und ich glaube, das wird auch die Zukunft sein.

Wir werden auf Tierversuche in absehbarer Zeit nicht gänzlich verzichten können. Aber wir können mit dem Wissen, das wir aus den Tierversuchen gewonnen haben, Ersatzmethoden für Tierversuche entwickeln, die dann auch dem menschlichen System näherkommen.

Was wären das für Ersatzmethoden?

Jan Tuckermann: Man probiert die Zelltypen, die man [aus Tierversuchen] kennt, in der Petrischale zu kultivieren, häufig auch mithilfe von dreidimensionalen Strukturen. Auch Organe probiert man so gut wie möglich nachzubilden. und dann mit Mikrofluidik System zu verbinden [das Simulationssystem heißt Organ-on-a-Chip]. Da ist man schon sehr weit gekommen.

Es ist aber immer abhängig davon, dass man vorher aus dem Organismus lernen konnte, was es dort überhaupt gibt. Um das Wissen dann in diese Systeme einbringen zu können.

Die zweite Herausforderung ist es, die Wechselwirkungen zwischen ganz verschiedenen Organen zu berücksichtigen. Beispielsweise endokrine Drüsen reagieren auf Input vom zentralen Nervensystem und wirken dann wiederum auf andere Organe, wie zum Beispiel die Muskeln oder die Leber oder das Fettgewebe. Und das kann man im Moment noch ganz schwer in solchen künstlichen System, wie zum Beispiel Organ-on-a-Chip, abbilden.

Organ-on-a-chip System.
Organ-on-a-Chip ist ein künstlich nachgebildetes Organsystem, welches die Aktivität, Bewegung und Physiologie der Zellen in einem Organ simuliert.

Sie sagen also, dass wir jetzt noch Tierversuche brauchen, aber diese den Weg zu tierversuchfreien Versuchen ebnen, indem man beispielsweise Organe nachbaut, korrekt?

Jan Tuckermann: Ja. Wobei wir im Moment noch in einer Phase sind, wo wir mit einer neuen Technik, der Erfassung von DNA-Signaturen von Einzelzellen, immer noch neue Zelltypen entdecken. Das passiert seit den letzten fünf bis sieben Jahren, und diese Entwicklung geht erstmal noch weiter. Das heißt, es gibt noch ganz viele Zelltypen von Organen, die wir noch gar nicht kennen. Und um das zu ändern, brauchen wir unter anderem die Möglichkeit, diese Zellen zu markieren. Und das gelingt am besten mit transgenen Techniken in Tieren.

Ist es möglich Organe nachzubilden und dann mit diesen zu testen, wie zum Beispiel Leberzellen auf bestimmte Medikamente reagieren?

Jan Tuckermann: Ja. Damit kann man zumindest einen Teil der Leberfunktionen abbilden, zum Beispiel wie Stoffe entgiftet werden können.

Aber in der Leber befinden sich nicht nur die klassischen Leberzellen, die auch noch in unterschiedlicher Ausprägung vorhanden sind, sondern man hat dort auch Blutgefäßzellen, man hat Immunzellen — die Immunzellen überleben häufig in diesen in vitro System schlecht.

Man hat eine ganze Mixtur von verschiedensten Zellen, die von außen hineinkommen und auch die Leber wieder verlassen. Und diese Zellen ziehen alle gemeinsam an einem Strang, um dann einen bestimmten physiologischen Prozess auszulösen. Deswegen haben wir immer eine gewisse Limitation in diesem künstlichen Organsystem.

Organ-on-a-chip System.
Obwohl Organ-on-a-Chip eine Simulation eines Organsystems darstellt und somit viel komplexere biologische Situationen untersucht werden können als mit einfachen Zellen, hat auch dieses System bisher noch seine Grenzen.

Viele Tierschützer sagen, dass sich die Ergebnisse, die am Tier gewonnen wurden, gar nicht auf den Menschen übertragen lassen. Was sagen Sie dazu?

Jan Tuckermann: Wir haben über die Tierversuche viel Grundsätzliches gelernt: Wie kommt es zum Beispiel zur Energiegewinnung, während einer Fasten-Antwort? Das ist etwas, was man prinzipiell in allen Säugetieren messen kann. Natürlich ist eine Maus kein Mensch. Aber, dass man grundsätzlich solche Regelkreise erst einmal versteht, und zwar funktionell versteht, indem man bestimmte Komponenten ausschalten oder überaktivieren kann, da haben wir vom Tier extrem viel gelernt.

Und von vielen Behandlungen, die wir jetzt haben, z. B. von Diabetes oder von Osteoporose, wurden die grundsätzlichen therapeutischen Konzepte erst im Tierversuch verstanden. Bis es zur Anwendung an den Menschen kommt, hat es noch viele weitere Verfahren benötigt. Aber ohne vorausgegangenen Tierversuch wäre man gar nicht auf die Idee gekommen.

Da haben wir sehr viele Beispiele in der Krebstherapie, wie die Aktivierung vom körpereigenen Immunsystem gegenüber Krebszellen.

Wir haben die Tierversuche immer gebraucht, um diese biologischen Vorgänge überhaupt zu verstehen. Und bei der Übertragung auf den Menschen sind wir uns natürlich der Limitationen bewusst, dass die Tiere, in denen das entdeckt wurde, natürlich nicht mit dem Menschen identisch sind. Aber die grundsätzlichen Hormone sind die gleichen. Die Gewebe sind ähnlich. Und dann kann man mit teilweise auch wieder tierversuchsfreien Methoden sich dem menschlichen System nähern.

Demonstration von Tierveuchsgegner*innen mit Banner: "Die Zukunft ist tierversuchsfrei."
Tierversuchsgegner*innen fordern, dass Tierversuche komplett eingestellt werden.

Ethisch steht dahinter das Postulat „Menschenwohl steht über dem Tierwohl“. Und das ist unbestritten?

Jan Tuckermann: Das ist eine grundsätzliche Frage, die natürlich eine Gesellschaft klären muss. Aber ich glaube, wir haben einen gesellschaftlichen Konsens, dass das Menschenwohl über dem Tierwohl steht.

Man muss aber auch die Tiere als Mitgeschöpfe berücksichtigen und natürlich alle Anstrengungen unternehmen, immer wieder die Unerlässlichkeit von Tierversuchen zu prüfen. Und nur wenn diese Unerlässlichkeit klar nachgewiesen ist, dann greifen wir auf Tierversuche zurück.

Die Prüfung der Unerlässlichkeit, da haben wir in Deutschland leider auch ein sehr zähes Verfahren mittlerweile. Die Antragsteller zur Genehmigung von Tierversuchen warten teilweise ein halbes Jahr bis ein Jahr lang, bis überhaupt entschieden wird, wie mit dem Tierversuch weiter verfahren wird.

Und mein Appell ist auch, diese notwendige ethische Abwägung, die behördlich kontrolliert wird, effizienter zu gestalten. Wir merken das auch bereits im Wettbewerb im internationalen Vergleich.

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