Donaueschinger Musiktage 2006 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2006: "Hyperion"

Stand
AUTOR/IN
Georg Friedrich Haas

Konzert für Licht und Orchester

für rosalie

Licht ist ein Musikinstrument.
Eine Veränderung der Farben verändert die Wahrnehmung der Klänge. Zeitlich strukturiertes Licht wirkt wie ein lautloses Schlagzeug.

Seit vielen Jahren (seit meiner Kurzoper Adolf Wölfli aus dem Jahr 1981) versuche ich, für dieses Musikinstrument zu schreiben.

Die Grundkonzeption von Hyperion ist einfach: Vier Orchestergruppen befinden sich an den vier Wänden des Raumes. Ihnen gegenüber, von ihnen gut einsehbar, sind jeweils vier verschiedene Lichtquellen angebracht. Die MusikerInnen reagieren auf das Licht – analog wie sie auf die optischen Zeichen eines/r Dirigenten/in reagieren.

Wie dieses optische Element aussieht, liegt in der freien Entscheidung der das Licht gestaltenden Persönlichkeit: Festgelegt ist in der Partitur lediglich, wann etwas zu geschehen hat. Und es ist notwendig, dass diese Ereignisse so klar sind, dass sie von den InterpretInnen wahrgenommen werden können.

Plötzliche Veränderungen bilden Markierungspunkte im Fluss der Klänge.

Allmähliches An- und Abschwellen des Lichts steuert bestimmte (in den Noten festgehaltene) Parameter einer auf harmonische Wirkung zielenden Aleatorik.

Und manchmal wird das Licht ganz traditionell als Metronom eingesetzt.

Aber das Licht ist kein Dirigent, es ist eine Maschine, die einmal in Gang gesetzt, unerbittlich ihren Zeitablauf durchsetzt.

Es war notwendig, in der Komposition auf diese spezielle Aufführungssituation Rücksicht zu nehmen. In aleatorischen Passagen (die so konzipiert sind, dass exakt vorherbestimmte harmonische Prozesse ablaufen werden) wird die Freiheit der individuell gestalteten Zeit gegen diese Organisationskraft der Maschine gesetzt. Und an die Stelle der dirigierenden Persönlichkeit tritt das Schlagzeug, das jetzt akustisch "dirigieren" muss, weil ja das optische Dirigieren bereits in der Lichtstimme "wegkomponiert" ist.

Beim Komponieren musste ich mir immer wieder bewusst machen, das es hier niemanden gibt, der eine allfällige Unsicherheit mit sicherer Hand auffangen kann, niemanden, der zu mehr Kraft ermuntert oder sonst wie korrigierend eingreifen kann. Die Menschen, die diese Musik im Orchester spielen, sind mit ihr und mit dem Licht allein.

In der Musik erklingen u.a. Obertonakkorde und Klänge des temperierten Tonsystems. Zwei Klaviere sind im Obertonsystem gestimmt, eines auf der Basis der Partialtöne des Subkontra-A, ein zweites auf der Basis der Partialtöne des Kontra-Es. Die Spannung zwischen Verschmelzung und Reibung – mit der ich in den meisten meiner Stücke bewusst arbeite – ist auch in Hyperion einer der grundlegenden Gedanken.

Aber was an Strukturen aufgebaut wird, zerfällt. Unisono-Melodien verschieben sich in unterschiedlichen Zeitrastern und gegeneinander komponierten Tonsystemen. An den umgestimmten Klavieren werden nicht nur Obertonakkorde, sondern auch Sechsteltoncluster realisiert. Die scheinbar ansteigenden (oder abfallenden) melodischen Bewegungen finden keine neuen Tonräume und treten auf der Stelle. Was als Beschleunigung erscheint, entpuppt sich als Stillstand.

"Hyperion" ist eine Gestalt der griechischen Mythologie, der Vater des Lenkers des Sonnenwagens, der Morgenröte und der Nacht.

"Hyperion" ist ein Roman von Friedrich Hölderlin, dessen zentraler Gedanke das Scheitern von Revolution und von Liebe ist.

Hyperion, das Konzert für Licht und Orchester, ist für mich ein erster konkreter Schritt in eine neue Richtung. Hier ist noch Vieles ein Experiment; es gibt für mich große Unsicherheiten: Wie reagieren die Menschen, die diese Musik unter diesen ungewohnten Bedingungen spielen? Wie sehr verändert tatsächlich das Licht die Wahrnehmung der Musik? Verändert es auch die Wahrnehmung der InterpretInnen? Was bedeutet "Kontrapunktik" zwischen zwei so diametral entgegen gesetzten Materien wie Musik und Licht – nicht als Nebeneinander, nicht als Verdopplung, sondern als integrierter Bestandteile eines die Gattungen übergreifenden künstlerischen Ganzen?

Es war ein besonderer Glücksfall für mich, dass die Zusammenarbeit mit rosalie möglich war. Hyperion ist im Dialog mit ihr entstanden. In vielen Abschnitten habe ich ganz konkret auf ihr Licht reagiert.

Lichtung

Ein neues Stück für LICHTSTIMME und Orchester. Von den Rändern des Raumes her, in Gruppen verteilt, passiert in den letzten Momenten das große Crescendo ins Nichts. In vollkommenem Dunkel: eine All-Umfassung von Klang. Alles auflösend. Dazwischen vielleicht immer noch, vagierend: das Publikum. The Audience. Die Flaneure, zuletzt zwischen langen Schatten des Ausklangs. Ausgeträumt träumen heißt das etwa bei Samuel Beckett. Kein Endspiel. Aber dunkles Spiel vom Ende.

Freilich: In welchem Licht?
Das musste von Beginn an heißen: Die Lichtstimme ist zwischen aller Exaktheit und Ekstase vor allem eines: eine von der Musik her tingierte, zugleich vollkommen autonome "Scala enigmatica". Aus Licht. Versehen mit all dem, was die Formel "formosus" verheißt: über alle Farben und Skalen hinaus. "Enrichissement". Unser gesamtes ästhetisches Vokabular muss erweitert werden. Und bereichert zugleich.

Wie also kann es beredt werden, das tönende Schweigen, das kommen wird? In immer anderen Sprachen? Als Zeichen des Geheimen? Als ungemalte Bilderwelt?
Was kann da sichtbar werden am Horizont einer immerzu (!) gestundeten Zeit? Beide: Musik und Bildende Kunst gleichen einem Linienziehen im Unsichtbaren. Somit jeglichem Ruf ins Entbehrte: Wie schon Franz Marc bemerkt hat: Kunstarbeit sei immer so etwas wie "Auftauchen an einem anderen Ort".

Deshalb ist dieses Projekt einer Musik für Lichtstimme und Orchester ästhetisch ein absoluter Fall ins Jetzt. Auftauchen aus dem Niemandsland. Oder darin eintauchen. Es ist doch immer so, als ob hierin die Stimme des Lichts anheben würde zu singen. Dabei bleibend, in dem, was sie ist: Konzept einer ungesungenen Schrift. Unendliche Polyphonie. Halluzination. Musikalisch konkret werdende Fata Morgana. Was läge näher, als den a-logischen Gedankenbildern im Sinne der Idee etwa einer dunkel-verschatteten Logik des Traumes nachzuspüren?
Allein das wäre es nicht. Lange noch nicht. Denn es geht um etwas ganz Anderes. Das ganz Andere. Eine ästhetisch konkret vermittelte Dialektik zwischen Achsenton und möglicher Lichtspur. Es geht um die Idee einer besonderen ästhetischen Ausfahrt. Die Parole heißt – unabhängig voneinander und konkret aufeinander bezogen: ästhetische Parallelaktion. Als Reise ins Niemandsland. Ans Ende des Lichts. Mit einer Musik, alle Musik endlos zu enden. Als Toposforschung. Und zwar – zumindest in ästheticis – im Licht des U-Topischen.

Im Lichtsinn – so Paul Celan – enträtselt sich die Seele. Opake Male im Zeichen der Kunst.
Und zwischen Fadensonnen und Atemwenden soll sie vorauseilen, die Musik. Durch die Nacht. Ans Licht. Erst indem sie sich dann dazwischen kommen, wie das Dazwischen Kommende ästhetisch erhobener Fügung, vermag sie sich darüber frei zu setzen: diese Kunst des Imaginären. Indem sich Lichtspur und musikalische Drift potenzieren. Miteinander frei setzen. Im Offenen.

Moments musicaux also mit einem Zug von Bildern, die sich erst bilden. Wie in einem Delta von Blitzen des ästhetischen Übergangs. Vielleicht auch Versuche, alle Schwerkräfte des Ästhetischen zu überwinden. Klangwelten als schwebende Gravitationszentren, aufgehoben in Licht. Als schroffe Fügung zuweilen, versetzt in die Kraftfelder jenes Dunkels, das uns blendet.

Anhang: Das Niemandsland
Im Anfang war die Lichtstimme. Als Wegweiser. Grundriss offener Architektonik. Und alle musikalische Geographie sagte nur Umrisse voraus: Cluster, Reibungsklänge, pulsierende Akkorde, Spiralen etc.etc.etc.

Wie anfangen? Wie durchführen? Wie transponierend in der Vermittlung enden?
Der ganze Raum ist umfasst von einer groß dimensionierten Licht-Bande, die schwebt. Einzelne Momentformen in diesem rahmenden Organon aus Licht etwa sind: unterschiedlich tingierte Crescendi/Decrescendi und der Metronomhammer aus Licht, zeternde Mosaike, Blitze, Standbilder – getrennt/vereint, Farbenkanons, Lichtglissandi des Entgleitens und Blendung in vollkommenes Dunkel.

Kunst ist auch Abweichung. Fantasie der feinsten Differenz. Interpolation im Kleinsten. Durch Passagen langer Momente. Lichtung. Vielleicht Lichtzwang. Jedenfalls muss es gelingen, möglich geworden sein, den ganzen Kosmos der Töne einzufangen: in der unendlichen Melodie des Lichts. Auf dass noch etwas spürbar wird – in dieser Luft: auch das Licht vom anderen Planeten.

Stand
AUTOR/IN
Georg Friedrich Haas