Wissenschaftler in Russland geraten immer mehr unter Druck

Tübinger Osteuropa-Experte gegen Einreiseverbot für russische Touristen

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Thomas Scholz-Hörnig

Der Tübinger Professor Klaus Gestwa steht einem EU-Einreiseverbot für russische Touristen kritisch gegenüber. Auch befürchtet er bald ein härteres Vorgehen gegen Putin-Kritiker.

SWR: Der Direktor des Tübinger Uni-Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Klaus Gestwa, hat immer noch viel Kontakt zu Kollegen und Freunden in der Ukraine und in Russland – insbesondere zu Putin-Kritikern. Wie geht es denen inzwischen? Denn Putin und seine Schergen bedrängen, sanktionieren und attackieren Kritiker massiv. Hat sich die Situation für die Menschen in ihrem russischen Bekanntenkreis noch verschlimmert?

Gestwa: Ja, aus familiären Gründen sind einige meiner Putin-kritischen Kollegen und Kolleginnen bislang noch nicht ausgereist. Viele von ihnen hoffen immer noch darauf, dass sich die politische Lage in absehbarer Zeit irgendwie verbessern wird. Ihre berufliche Situation ist gegenwärtig noch halbwegs stabil, weil die russischen Stellen aktuell noch so mit dem Krieg beschäftigt sind, dass ihnen eigentlich die Kapazitäten fehlen, um die kritischen Geister an den Universitäten systematisch zu verfolgen.

Angst vor Säuberungswellen in Russland

Bislang ist es bei Schauprozessen in sehr wenigen prominenten Fällen geblieben. Allerdings haben sich viele meiner Kollegen und Kolleginnen in der letzten Zeit wiederholt an mich und auch meine Kollegen gewandt und nachgefragt, wie wir Ihnen helfen können, weil sie Säuberungswellen gegen politisch unliebsame Personen auf breiter Front befürchten. Das hätte natürlich für die russische Wissenschaft fatale Folgen.

Manche Wissenschaftler haben Russland schon verlassen. In der EU diskutiert man jetzt darüber, die Grenzen für Russen dicht zu machen. Da ist oft die Rede von Touristen, die es sich hier gutgehen lassen. Was würde so ein Einreiseverbot bewirken?

Natürlich sorgt es für Empörung, dass russische Touristen und Touristinnen bei ihrem Urlaub in Europa so tun, als gäbe es diesen brutalen, russischen Angriffskrieg in der Ukraine nicht. Und ganz unerträglich wird es natürlich dann, wenn diese russischen Reisenden mit dem "Z", dem "V-Zeichen" oder mit anderen politischen Insignien auch noch ihre Zustimmung zum Krieg öffentlich zur Schau stellen. Aber ein allgemeines Visaverbot für russische Touristen und Touristinnen scheint mir doch ziemlich weit über das Ziel hinauszuschießen.

Mit Einreiseverbot würde man russischer Propaganda zuarbeiten

Zum einen spielt man damit der russischen Propaganda in die Hände, die schon seit längerem über ein vermeintlich russlandfeindliches Europa schwadroniert. Zum anderen vergibt man sich durch das Verbot von Visa auch die Möglichkeit, die Touristen aus Russland direkt mit dem zu konfrontieren, was Europa denn eigentlich über den russischen Angriffskrieg denkt. Außerdem sollten wir nicht die Löcher, die es für ausreisewillige Russen noch gibt, von unserer Seite her verschließen. 

Jetzt wird befürchtet, dass nach dem tödlichen Attentat auf die Putin nahe Daria Dugena die russischen Sicherheitskräfte noch härter gegen Kritiker im Land vorgehen. Inwieweit befürchten Sie, dass Putins Privatarmee, die Polizei oder Geheimdienste noch härter zuschlagen werden? 

Ich habe mir jetzt in den letzten Tagen wiederholt die russischen Medien angeschaut. Da können wir schon beobachten, dass die russische Öffentlichkeit und Politik, die rechtsextreme Daria Dugena nun als eine Märtyrerin verklärt und jetzt ganz offen sowohl der Ukraine als auch Estland mit Rache und Vergeltung droht. Es gibt nun die Befürchtung, dass dieses Attentat den Vorwand dafür liefern könnte, die lange erwarteten Säuberungs- und Verhaftungswellen in Angriff zu nehmen. Die politische Debatte hat sich in Russland jetzt noch einmal zunehmend radikalisiert. 

Sorge vor Säuberungs-Kampagne gegen Regimekritiker

An diesem Mittwoch hat es die ersten Verhaftungen gegeben. Allerdings nicht von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, sondern von prominenten, ehemaligen Politikern. Wir sollten mit Sorge auf die weitere Entwicklung achten, ob es bei diesen Einzelfällen bleibt, oder ob es tatsächlich zu dieser breit angelegten Säuberungskampagne kommt. Es ist ganz eindeutig, dass sich mit diesem Attentat das schon erhitzte politische Klima in Russland noch einmal verschärft hat. Es steht wirklich zu befürchten, dass der Kreml die Repressionsschraube noch weiter anziehen wird. Da mach ich mir schon viele Sorgen um meine Kollegen und Kolleginnen, die sich eindeutig positioniert haben. 

 

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