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Italien und Libyen – Erbe der Kolonialzeit

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Aureliana Sorrento
Aureliana Sorrento (Foto: SWR, privat)
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Maurice Pflug
Candy Sauer

Seit 2011 herrscht Bürgerkrieg in Libyen. Italien versucht zu vermitteln. Rom und Tripolis haben enge Beziehungen, die weit zurückreichen.

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Die Beziehung zwischen Italien und Libyen ist traditionell eng. Auch im libyschen Bürgerkrieg, bei dem immer mehr Großmächte mitmischen, versucht Italien eine besondere Vermittlerrolle einzunehmen. Das hat mit der geografischen Nähe der beiden Länder zu tun – nur knapp 290 Kilometer Mittelmeer trennen sie an der engsten Stelle – aber auch mit Italiens Kolonialgeschichte.

Italien: Niederlage 1896 in Abessinien fest im kollektiven Gedächtnis verankert

Der Historiker Nicola Labanca von der Universität Siena betrachtet die italienische Eroberung Libyens als einen Ausgleich für eine Niederlage: 1896 hatte Italien die Schlacht von Adua gegen das Kaiserreich Abessinien, das heutige Äthiopien, verloren. In Italien brannte sich die Schmach dieser Niederlage ins kollektive Gedächtnis.

Ein historisches äthiopisches Gemälde zeigt die Schlacht von Adua. Das Königreich Italien unterlag hier dem Kaiserreich Abessinien, dem heutigen Äthiopien (Foto: IMAGO, imago images / UIG)
Ein historisches äthiopisches Gemälde zeigt die Schlacht von Adua. Das Königreich Italien unterlag hier dem Kaiserreich Abessinien, dem heutigen Äthiopien.

Italien nutzt die Schwäche des Osmanischen Reichs zur Eroberung Libyens

Nicola Labanca meint: „Nach der Niederlage von Adua strebte Italien weiterhin nach Eroberungen am Mittelmeer. Anders als die Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien zeigte das Osmanische Reich Anzeichen von Schwäche – darin sah Italien eine Chance.“ Ideologisch wurde der italienische Expansionsdrang in die Tradition des Römischen Reichs, des Imperium Romanum, gerückt, dem auch Libyen angehört hatte.

Das Römische Imperium etwa zur Zeit seiner größten Ausdehnung unter Trajan im 2. Jahrhundert n. Chr. (Foto: IMAGO, imago images / glasshouseimages)
Das Römische Imperium etwa zur Zeit seiner größten Ausdehnung unter Trajan im 2. Jahrhundert n. Chr. Mit Nordafrika waren auch das heutige Libyen und die Region Kyrenaika teil des Herrschaftsgebiets. Zu sehen sind die drei Städte des heutigen Tripolis (Τρίπολης: ‚drei Städte‘) Oea, Sabratha und Leptis Magna.

Im Oktober 1911 zogen italienische Einheiten in Tripolis ein. Die osmanischen Truppen flohen nach wenigen Feuergefechten ins Hinterland und begannen, libysche Widerstandskämpfer auszubilden. Deren Gegenwehr wurde mit Massakern vergolten.

In Tripolis starben mehrere tausend Menschen. Eine erschütternde Zahl angesichts der Tatsache, dass in der Stadt damals nur etwa 30.000 Menschen lebten. 5.000 bis 6.000 Libyer wurden auf italienische Strafinseln deportiert.

Italienische Offiziere um 19111912 in Tripolis  Libyen (Foto: IMAGO, imago images / Photo12)
Italienische Offiziere um 1911/1912 in Tripolis / Libyen. Die Armee verübte mehrere grausame Massaker.

Mussolinis faschistisches Italien: Senfgas und Konzentrationslager in Libyen

1922 wurde Benito Mussolini Ministerpräsident und die konstitutionelle Monarchie Italiens in eine faschistische Diktatur umgestaltet. Unmenschlichkeit rechtfertigte sie mit der angeblichen Überlegenheit der weißen Rasse. Der italienische Krieg gegen Libyen nahm infolgedessen neue Dimensionen an: Das faschistische Italien setzte Senfgas gegen die libysche Zivilbevölkerung ein und errichtete Konzentrationslager. Ein Großteil der halbnomadischen Bevölkerung der Kyrenaika, einer historischen Großprovinz Libyens, wurde in die Lager deportiert.

Benito Mussolini 1927 in Rom. Nachdem er 1922 Ministerpräsident wurde, baut er die konstitutionelle Monarchie Italiens in eine Diktatur um. (Foto: IMAGO, imago images / Photo12)
Benito Mussolini 1927 in Rom. Nachdem er 1922 Ministerpräsident wurde, baute er die konstitutionelle Monarchie Italiens in eine Diktatur um.

Der Vizegouverneur der Kyrenaika, Rodolfo Graziani, schrieb: „Die Regierung ist bereit, die Bevölkerung auszuhungern, wenn sie sich nicht vollständig unterwirft.“ Um die 100.000 Libyer wurden in den Lagern zusammengepfercht. 40.000 von ihnen verloren dort ihr Leben.

#BlackLivesMatter bringt die Aufarbeitung der Kolonialzeit voran

Nicola Labanca kritisiert, dass Italien sich seiner Kolonialvergangenheit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht ausreichend gestellt habe. Erst jetzt scheint sich die italienische Bevölkerung dieser Vergangenheit wirklich bewusst zu werden: Im Zuge der weltweiten antirassistischen #BlackLivesMatter-Proteste haben auch in Italien antirassistische Gruppierungen verlangt, Denkmäler zur Erinnerung an Faschisten und Kolonialisten zu entfernen – zum Beispiel das Mausoleum, das die Gemeinde Affile bei Rom noch im Jahr 2012 dem Vizegouverneur Graziani errichtet hat.

Rodolfo Graziani war der Vizegouverneur der Region Kyrenaika. Er war für die Planung der Konzentrationslager und die Durchführung der Deportationen verantwortlich. Im Zuge der #BlackLivesMatter-Bewegung wird Kritik an seinem erst 2012 errichteten Mausoleum geübt. (Foto: IMAGO, imago images / Cola Images)
Rudolfo Graziani war der Vizegouverneur der Region Kyrenaika. Er führte Konzentrationslager und drohte damit, die lokale Bevölkerung auszuhungern. Hier ist er 1936 in Äthiopien zu sehen.

Die Beziehungen bessern sich nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab Italien die Kolonie auf. Die Beziehungen zum nun unabhängigen Libyen besserten sich zunehmend: 1956 trafen beide Länder eine Vereinbarung zur wirtschaftlichen Kooperation, insbesondere im Bereich der Erdöl- und Gasförderung.

Gaddafis Putsch als Chance für Italien: Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen

Als sich der libysche Hauptmann Muammar Al-Gaddafi 1969 an die Macht putschte, baute Italien die Beziehungen zu Libyen weiter aus, vor allem im ökonomischen Bereich: Italienische Energiefirmen erhielten Aufträge in Libyen; libysche Banken erwarben Anteile an italienischen Unternehmen, etwa an FIAT.

Muammar Al-Gaddafi putschte sich 1969 an die Macht. (Foto: IMAGO, imago images / ZUMA/Keystone)
Muammar Al-Gaddafi putschte sich 1969 an die Macht. Hier in London 1972.

Kritik: Berlusconis Freundschaftsvertrag mit Libyen soll Flüchtlinge stoppen

Als der Unternehmer Silvio Berlusconi 1994 Ministerpräsident Italiens wurde, inszenierte er sich als treibende Kraft der Wiedergutmachungspolitik. Der „Vertrag für Freundschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit“, den er 2008 mit Gaddafi abschloss, wurde medial als Coup des Ministerpräsidenten inszeniert. Kritikerinnen und Kritiker vermuten als Motivation hinter Berlusconis Bemühungen jedoch die Abwehr von flüchtenden Menschen, die den afrikanischen Kontinent verlassen wollten: Im Freundschaftsvertrag verpflichtete sich Libyen, die eigenen Hoheitsgewässer von der Küstenwache patrouillieren zu lassen und Flüchtlingsboote nach Afrika zurückzuführen. Italien trainierte die libysche Küstenwache und lieferte Kontrollboote.

Silvio Berlusconi wurde 1994 italienischer Ministerpräsident. Er versuchte die Beziehungen zu Libyen zu verbessern - auch um seine Flüchtlingspolitik durchzusetzen. (Foto: IMAGO, imago images / Jürgen Eis)
Silvio Berlusconi wurde 1994 italienischer Ministerpräsident. Er versuchte die Beziehungen zu Libyen zu verbessern – auch um seine Flüchtlingspolitik durchzusetzen.

Arabischer Frühling 2011: Italien tut sich schwer, gegen Gaddafi vorzugehen

Als 2011 Libyens Bürgerinnen und Bürger im Zuge des Arabischen Frühlings protestierend auf die Straße gingen, ließ Gaddafi schwere Gewalt anwenden. Beim Eingriff der NATO tat Italien sich sichtlich schwer, gegen den ehemaligen Kooperationspartner vorzugehen. Unter der Ägide der UN kam 2015 ein Friedensabkommen zwischen den zwei wichtigsten libyschen Kriegsparteien zustande. Eine Einheitsregierung mit Sitz in Tripolis und Fayiz as-Sarradsch an der Spitze wurde installiert.

In Tripolis wird 2012 der Jahrestag der Aufstände gegen Gaddafi gefeiert. Demonstranten halten die libysche Nationalflagge in die Höhe. (Foto: IMAGO, imago images / Xinhua)
In Tripolis wird 2012 der Aufstände gegen Gaddafi 2011 gedacht. Demonstranten halten die libysche Nationalflagge in die Höhe.

General Haftars Offensive schafft einen Stellvertreterkrieg

Seit 2014 macht der Warlord Khalifa Haftar der Einheitsregierung von Fayiz as-Sarradsch die Macht streitig. Der Bürgerkrieg in Libyen ist derweil ein Stellvertreterkrieg geworden, denn Ägypten, Jordanien, die Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Russland und auch Frankreich unterstützen Haftar: Der Warlord hat sich als Anführer im Kampf gegen den islamischen Terrorismus profiliert, deshalb betrachtet ihn die französische Regierung als eine Art natürlichen Verbündeten.

General Khalifa Haftar 2018 mit dem französischen Außenminister Jean-Yves Le Drian in Paris. (Foto: IMAGO, imago images / Xinhua)
General Khalifa Haftar 2018 mit dem französischen Außenminister Jean-Yves Le Drian in Paris.

Italiens Einfluss schwindet

Arturo Varvelli, Leiter des European Council on Foreign Relations Rome (ECFR) meint: “In den letzten zwei Jahren hat Italien Sarradsch allmählich fallen gelassen. Denn man dachte, nun würde Haftar der neue Machthaber werden. Auf diese Weise hat die italienische Regierung die Gunst Haftars nicht gewonnen, aber den Einfluss, den sie auf Tripolis hatte, verloren.“

Der Präsident der libyschen Übergangsregierung Fayiz as-Sarradsch 2019 mit dem italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte. (Foto: IMAGO, imago images / ZUMA Press)
Der Präsident der libyschen Übergangsregierung Fayiz as-Sarradsch 2019 mit dem italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte.

Erdoğans Türkei füllt das Vakuum nach Italiens verlorenem Einfluss

In das Vakuum, das Italien hinterlassen hat, ist ein anderer Akteur vorgestoßen: die Türkei. Zur Unterstützung as-Sarradschs hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Anfang 2020 syrische Söldner nach Libyen entsandt.

Im Stellvertreterkrieg geht es um neuentdeckte Gasvorkommen

Arturo Varvelli vom ECFR erklärt dieses Vorgehen so: „Im Osten des Mittelmeers, zwischen Zypern, Israel und Ägypten, sind neue Gasvorkommen entdeckt worden. Das ist ein neuer Energie-Hub, von dem aus eine Gaspipeline geplant ist, die das Gas an Apuliens Küste bringen soll. An dem Projekt sind Total [aus Frankreich], ENI [Italien], Griechenland und Ägypten beteiligt. Die Türkei ist außen vor geblieben. Deshalb hat Erdoğan mit as-Sarradsch eine Vereinbarung getroffen, die die Hoheitsgewässer im Mittelmeer neu verteilt, um Anspruch auf die Ölquellen zu erheben und die Pipeline zu verhindern. Diese Vereinbarung verstößt gegen internationale Regeln, aber sie ist der Preis, den as-Sarradsch für Erdoğans Unterstützung bezahlt hat.“

Fayiz as-Sarradsch 2020 mit Recep Tayyip Erdoğan in Istanbul. Nach italiens langsamen Rückzug darf as-Sarradsch auf türkische Unterstützung hoffen. (Foto: IMAGO, imago images / Xinhua)
Fayiz as-Sarradsch 2020 mit Recep Tayyip Erdoğan in Istanbul. Nach italiens langsamen Rückzug darf as-Sarradsch auf türkische Unterstützung hoffen.

Die türkische Einmischung steht in der Tradition des Osmanischen Reichs

Nicola Labanca, der Historiker von der Universität Siena, erkennt in Erdogans Einmischung einen „Nachhall aus sehr alten Zeiten“. Die ehemalige Kolonie zurückzuerobern sei in der Tradition des Osmanischen Reichs zu betrachten.

Der Krieg geht weiter

Mit türkischer Hilfe ist es as-Sarradschs Truppen Anfang Juni gelungen, Haftars selbst ernannte Libysche Nationale Armee, die bis vor die Tore Tripolis' vorgerückt war, zurückzudrängen. Nach dem Rückzug haben die Regierungstruppen etwa acht Massengräber entdeckt. UN-Generalsekretär António Guterres zeigte sich schockiert. Emmanuel Macron und Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi wollen Verhandlungen in die Wege leiten. Die Lage bleibt kompliziert – und der Krieg geht weiter.

Bei der Libyen-Konferenz in Berlin am 19.1.2020: Der Leiter der United Nations Support Mission in Libya Ghassan Salame; der UN-Generalsekretär Antonio Guterres, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD). (Foto: IMAGO, imago images / Xinhua)
Bei der Libyen-Konferenz in Berlin am 19.1.2020: Der Leiter der United Nations Support Mission in Libya Ghassan Salame; der UN-Generalsekretär António Guterres, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD).

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