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Bloody Sunday in Nordirland 1972 – Amnestie für die Todesschützen 50 Jahre danach?

Stand
Autor/in
Christoph Prössl
Gabi Biesinger

Ursache der "Troubles" in Nordirland

Es ist schwer zu sagen, wann der Grundstein für die Troubles in Nordirland genau gelegt wurde.

Mit der normannischen Invasion im Jahr 1169 fingen die Engländer an, ihre Nachbarinsel zu erobern. Und seitdem versuchten die Iren, die Engländer wieder abzuschütteln. 1541 eroberte Heinrich VIII. als erster englischer Herrscher die komplette Insel und ernannte sich zum König von Irland.

In den folgenden Jahrhunderten entspann sich ein Kreislauf der Gewalt. 1690 bei der berüchtigten Schlacht am Fluss Boyne standen sich der englische protestantische König Wilhelm von Oranien und sein katholischer Vorgänger Jakob II., den er vom Thron gejagt hatte, mit ihren Truppen gegenüber. Wilhelm von Oranien gewann das blutige Gemetzel. Dieser Sieg wurde als Manifestation der britischen Vorherrschaft für die kommenden Jahrhunderte gesehen.

Noch heute feiern die Protestanten in Nordirland jedes Jahr am 12. Juli den Erfolg bei der Battle of the Boyne mit Umzügen und Paraden. Und anschließend gibt es immer noch regelmäßig Ausschreitungen.

Hinrichtungen nach Osteraufstand 1916 bescheren Republikanern Zulauf

Ostern 1916, als die Briten auf dem Kontinent mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt sind, organisieren Republikaner in Dublin einen Aufstand. Die Rebellen verschanzen sich im Hauptpostamt und rufen eine „Irische Republik“ aus. Noch heute kann man in den Mauern des Gebäudes, in dem sich immer noch die Post befindet, die Einschusslöcher von damals sehen. Nach fünf Tagen ist der Aufruhr niedergeschlagen. Die Rädelsführer werden hingerichtet. Das beschert den radikalen Gruppen der Republikaner noch mehr Zulauf.

Zwischen 1919 und 1921 tobt deranglo-irische Untergrundkrieg zwischen den Untergrundkämpfern der selbsternannten Irisch-Republikanischen Armee – kurz IRA – und der nordirischen Polizei und den britischen Truppen.

1921: Irischer Freistaat entsteht, Provinz Ulster bleibt bei Großbritannien

Der britische Premierminister Lloyd George ist schließlich bereit, mit dem politischen Arm der Rebellen, der Partei Sinn Féin, zu verhandeln. 1921 wird ein irischer Freistaat gegründet. Nur noch die sechs Grafschaften der Provinz Ulster im Norden der irischen Insel gehören zu Großbritannien – das heutige Nordirland. Der Rest der Insel wird von Dublin aus verwaltet und nach dem Zweiten Weltkrieg formal eine Republik.

Ende der 1960er: Bürgerrechtsbewegung in Nordirland

Ende der 1960er-Jahre ist die Stimmung in den westlichen Gesellschaften der Welt aufgewühlt. In Europa fordern Studentenbewegungen Respekt vom Establishment, in den USA kämpft die Bürgerrechtsbewegung für die Gleichberechtigung von Schwarzen. Und in Nordirland wollen viele Katholiken die Benachteiligung durch die britische Regierung nicht länger hinnehmen. Wahlkreise etwa werden zugunsten der protestantischen Bevölkerung zugeschnitten. Und eine junge, ledige protestantische Mutter bekommt schneller eine Wohnung als eine katholische Mutter in der gleichen Situation. Protestanten bekommen häufig die höherwertigen Jobs, Katholiken die minderwertigeren, schlechter bezahlten.

Derry: Bloody Sunday 1972

Am 30. Januar 1972 werden in der kleinen nordirischen Stadt Derry 13 Menschen von britischen Soldaten erschossen, eine weitere Person stirbt später im Krankenhaus. 14 weitere werden angeschossen und schwer verletzt. Der 30. Januar 1972 ist ein Sonntag.

Die getöteten Männer und Jungen, viele von ihnen erst 17 Jahre alt, trugen keine Schusswaffen bei sich. Sie waren Katholiken und gehörten zur nordirischen Bürgerrechtsbewegung. An diesem Sonntag wollten sie gegen die andauernde Benachteiligung der katholischen Iren in Nordirland durch die britischen Behörden demonstrieren.

Die Armee will den Protestzug auflösen und die Demonstranten mit Gummigeschossen und Wasserwerfern auseinandertreiben. Aber plötzlich wird scharf geschossen. Fallschirmjäger eröffnen das Feuer auf die Demonstranten. Der Priester Edward Daly musste miterleben, wie der 17- jährige Jackie Duddy verblutete. Die Fotos, wie Father Daly mit dem weißen blutbefleckten Taschentuch winkend, die kleine Gruppe mit dem sterbenden Jackie Duddy anführt, gehen um die Welt – als Zeichen der Eskalation der Gewalt am blutigen Sonntag.

Die Fallschirmjäger, die Hunderte Schüsse abfeuerten, erklären anschließend, sie seien aus dem Katholikenviertel Bogside heraus zuerst beschossen worden. Augenzeugen bestreiten das.

Eine Untersuchungskommission entlastet drei Monate später die Armeeführung, ihr Eingreifen sei angemessen gewesen. Die Republikaner und vor allem die Angehörigen der Opfer fühlen sich einmal mehr gedemütigt. Vor allem, weil ein erster Bericht zu dem Schluss kam, dass die Demonstranten bewaffnet waren. So hatten es Soldaten ausgesagt in einer Untersuchung, die der Richter John Passmore Widgery durchgeführt hatte – offenbar zu hastig, wahrscheinlich auch mit Falschaussagen konfrontiert, die er nicht ausreichend überprüfen ließ.

Häuser mit Wandgemälden in Derry, die an den "Bloody Sunday", den "Blutsonntag" am 30. Januar 1972, erinnern
Häuser mit Wandgemälden in Derry, die an den "Bloody Sunday", den "Blutsonntag" am 30. Januar 1972, erinnern. Die Szene im Vordergrund zeigt Father Daly mit einem weißen blutbefleckten Taschentuch winkend, der die kleine Gruppe mit dem sterbenden Jackie Duddy anführt.

Nordirlandkonflikt: mehr als 3.000 Tote zwischen 1968 und 1998

Der Bloody Sunday 1972 war der Funke, der die Gewalt in Nordirland wieder anfachte. Während der Zeit der sogenannten Troubles, zwischen 1968 und 1998, kamen in Nordirland über 3.000 Menschen ums Leben.

Amnestie für die Täter?

Viele Angehörige von Opfern fordern Gerechtigkeit. Sie wollen Gewissheit haben, was genau passiert ist, und vor allem wollen sie wissen, wer den Vater oder den Bruder getötet hat. Und viele wollen einen Prozess, eine gerichtliche Aufarbeitung, sie wollen, dass Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden.

Dieser Weg war schon bislang schwierig und nur wenige Prozesse führten zu Verurteilungen. Zwischen 2015 und 2021 – so Angaben der Regierung – wurden neun Personen angeklagt im Zusammenhang mit den Unruhen. Von diesen neun sei nur ein Einziger verurteilt worden.

Die Regierung will deswegen die juristische Verfolgung der Straftaten beenden. Im Juli 2021 wurde dem Unterhaus ein Vorschlag unterbreitet. Die Regierung argumentiert, dass die Polizei in Nordirland immer noch 1.200 Fälle zu bearbeiten hat. All diese Fälle, die im Zusammenhang stehen mit den Unruhen, zu bearbeiten, würde mindestens noch 20 Jahre dauern, heißt es in einem Regierungspapier.

Gleichzeitig macht die Regierung Vorschläge, um die Aufarbeitung der Geschichte in Nordirland zu beschleunigen. Die Stelle, die Angehörigen Auskunft gibt, soll gestärkt werden. Ein entsprechendes Gesetz sollte bereits vor Weihnachten 2021 im Unterhaus eingebracht werden.

Die Pläne sind hoch umstritten – nicht nur im Vereinigten Königreich. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der nichts mit der Europäischen Union zu tun hat und dem 47 Staaten angehören, darunter auch das Vereinigte Königreich, kritisierte die britische Regierung.

Setzt die britische Regierung den fragilen Friedensprozess in Nordirland aufs Spiel aus Ignoranz gegenüber der Geschichte und wegen der Überforderung von Polizei und Justiz?

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