Musikstück der Woche vom 05.05.2014

Redseliger Philosoph

Stand
AUTOR/IN
Katharina Höhne

Joseph Haydn: Sinfonie Nr. 22 Es-Dur Hob. I:22

Obwohl Joseph Haydn als eher verschlossener und unnahbarer Zeitgenosse galt, pflegte er einen großen Bekanntenkreis. In regelmäßigen Abständen traf er Künstler und Musiker, Aristokraten und Gelehrte, um mit ihnen im wahrsten Sinne über Gott und die Welt zu reden. Auch wenn seine Sinfonie Nr. 22 erst später den Titel "Der Philosoph" bekam, könnte ihn genau eine dieser Unterhaltungen zu diesem 'redseligen' Werk angeregt haben.

Am 4. Mai 2012 hat sich das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg in Haydns philosophischen Diskurs eingeklinkt. Das Ensemble war zusammen mit Chefdirigent Francois-Xavier Roth im Graf-Zeppelin-Haus in Friedrichshafen zu Gast.

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Vom Philosophieren und Phantasieren

Joseph Haydn gehört zu den großen Komponisten des 18. Jahrhunderts. Er war originell, experimentierfreudig und aus heutiger Sicht innovativer als so mancher Weggefährte. Seine besondere Begabung lag darin, Musik zu schreiben, die witzig sein kann und deren Stimmen so lebendig miteinander agieren, dass man ohne große Anstrengung Bilder assoziiert. Das erklärt auch, warum ein paar seiner knapp 110 Sinfonien heute visuelle Beinamen tragen, wie "Der Bär", "Die Uhr" oder "Der Philosoph". Wer sich die Titel ausgedacht hat, ist bis heute unklar. Man spekuliert, dass es Konzertveranstalter jener Zeit waren, die mit Hilfe griffiger Überschriften – abgeleitet von den charakteristischen Eigenarten des jeweiligen Stückes – Menschen in die Konzerte locken wollten. 

Als Haydn 1764 die Sinfonie Nr. 22 komponierte, war er Kapellmeister am Hof des österreichischen Fürsten Esterházy. Neben seiner Arbeit als künstlerischer Leiter des hauseigenen Orchesters, gestaltete er Kammermusikkonzerte und setzte diverse Opernprojekte musikalisch um. Trotz des straffen Arbeitspensums fühlte er sich wohl, da er in den Esterházys kunstliebende Auftraggeber gefunden hatte, die ihm die Möglichkeit gaben sich kompositorisch auszuprobieren. "Niemand in meiner Nähe konnte mich an mir selbst irre machen und mich quälen", sagte Haydn. "So musste ich originell werden. Ich konnte als Chef eines Orchesters mit diesem Versuche machen, beobachten, was den Eindruck hervorbringt, was ihn schwächt, ich konnte verbessern, zusetzen, wegnehmen und wagen..." Auf diese Weise ebnete er neben der Gattung des Streichquartetts auch der klassische Sinfonie den Weg, die Haydn in den großen Musikzentren Europas bekannt machte. 

Auch die Sinfonie Nr. 22 begeisterte europaweit die Musikliebhaber, denn sie war anders und das Publikum bekam schnell den Eindruck, Teil einer angeregten Unterhaltung zu sein. Dass man sie als 'anders' empfand, lag vor allem daran, dass die Sinfonie zwar klassisch aus vier Sätzen besteht – Adagio, Presto, Menuett, Presto –, dass aber jeder Satz in derselben Tonart steht, nämlich in Es-Dur, und dass der erste ein langsamer und keiner schneller ist. Dazu benutzte Haydn anstatt der üblichen Flöten und Oboen Waldhörner und Englisch-Hörner, die den Gesamtton der Sinfonie doch recht schwermütig und nachdenklich stimmen.

Bündelt man diese Besonderheiten und hört dem Wechselspiel zwischen den Waldhörnern und Englisch-Hörnern im ersten Satz zu, verstärkt sich der Eindruck eines angeregten philosophischen Gesprächs: Die schnellen Bewegungen der Englisch-Hörner treffen auf die betont getragenen der Waldhörner wie der lebhaft fragende Student auf den reflexiven, betagten Philosophen mit dem weißen Rauschbart. Ob dabei Platon, Aristoteles oder Voltaire in die Rolle des Gelehrten schlüpfen und es um den Staat, die Natur oder die Gesellschaft geht – das bleibt der eigenen Phantasie überlassen. 

SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg

Die Geschichte des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg reicht in das Jahr 1946 zurück. Sie ist geprägt von einem unkonventionellen Umgang mit der Tradition und dem mutigen Beschreiten neuer Wege. Regelmäßig arbeitet das Ensemble mit internationalen Dirigenten, Solisten und Komponisten zusammen und hat sich sowohl im In- als auch im Ausland als Spezialist für Neue Musik etabliert. Seit 2011 ist der gebürtige Pariser Francois-Xavier Roth Chefdirigent des Ensembles. Mit seiner besonderen Flexibilität, seiner Offenheit für Neues aber auch für das Ungewohnte im Gewohnten führt er die Erfolgsgeschichte des Orchesters fort.

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Katharina Höhne