Musik extrem lebendig
„Es ist als hätte man in einer großen Pyramide einen neuen Raum entdeckt“, wird der Saxofonist Sonny Rollins zitiert. Besser kann man das Jazzereignis kaum beschreiben. Und doch, das Bild hinkt: Denn eine Grabkammer ist das nicht, dieses Album birgt keine Mumie. Die Musik ist extrem lebendig.
Über das Manko, dass die Aufnahmen nur in Mono sind, hört man schnell hinweg. Der Klang: räumlich, ohne künstlichen Hall, sehr präsent. Am Mischpult: Rudy van Gelder, der Mann mit den „Elefantenohren“ und den Zauberhänden. Die Musiker: in Topform.
An der Schwelle zu einer neuen Schaffensphase
Coltrane steht zum Zeitpunkt der Studio-Session an der Schwelle einer neuen Schaffensphase. Bald wird er seine Musik noch stärker mit spiritueller Energie vollladen, sich den politischen Botschaften der Bürgerrechtsbewegung anschließen, mit Stücken wie „Alabama“ klare Statements gegen Rassismus, Diskriminierung und Gewalt abgeben.
Hier lotet er die Möglichkeiten des modalen Improvisierens bis ins Extrem aus. Coltrane war ein Musiker, der sich paradoxerweise in zwei gegenläufige Richtungen entwickelte: Er spielte immer innovativer und war zugleich kommerziell erfolgreich. „Both Directions at Once – The Lost Album“ vereint beide Seiten. Da gibt es „Vilja“, die Adaption eines Liedes aus Franz Lehars Operette „Die Lustige Witwe“. Coltrane verwandelt die süffige Melodie in eine spirituelle Hymne. Und da gibt es den fordernden, wilden Coltrane, der sich in seinen Improvisationen mit logischer Konsequenz immer mutigere Freiräume schuf.
Es ist eine Session „mit durchgedrücktem Gaspedal“. Der Star dieses Albums ist aber nicht Coltrane. Der Star sind er und seine Band. Mitzuerleben, wie das Classic Quartet zusammen „kocht“ – jene legendäre Gruppe mit dem Pianisten McCoy Tyner, dem Bassisten Jimmy Garrison und dem Schlagzeuger Elvin Jones – gehört zu den großartigen Momenten der afro-amerikanischen Musik.
Facebook-Video: Sohn Ravi Coltrane über das neue Album
Coltrane-Session landete auf dem Müll
Als wenn von Beethoven eine zehnte Sinfonie aufgetaucht wäre, bejubelt die Süddeutsche Zeitung den Fund. Für eine neue „Sinfonie“ sind allerdings zu viele Coltrane-Klassiker dabei: Stücke wie „Nature Boy“, Dauerbrenner wie „Impressions“ und dann der obligatorische langsame Blues.
Das könnte auch der Grund sein, warum diese Aufnahmen verschollen sind. Zu Beginn der 1960er Jahre war Coltrane so produktiv, dass er viel mehr einspielte als eine wohlmeinende Plattenfirma hätte sinnvoll rausbringen können. Wohl deshalb hielt man die Veröffentlichung zurück. Ein Jahr später war Coltrane musikalisch auf einem anderen Planeten unterwegs. Den Rest erledigte die Sparpolitik des Platten-Labels „Impulse“. Weil man die Mietfläche im Lager reduzierte, blieben nur Bänder in den Regalen, die schon als Alben erschienen waren. So landete die Coltrane-Session auf dem Müll. Dass die knapp 90 Minuten nun wieder aufgetaucht sind, ist eine veritable Sensation.
Den „Heiligen Gral des Jazz“ hat man mit diesem Album allerdings nicht gefunden. Es reicht, dass es mehr ist als nur ein Schnappschuss von der aufsteigenden Flugbahn eines Kometen, der den Weg für Generationen von Musikern und Bands hell erleuchtet hat.