Platz 10 (21 Punkte)

Ali Smith: Sommer

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Die 1962 im schottischen Inverness geborene Schriftstellerin Ali Smith hat im Jahr 2016 ein so ambitioniertes wie ungewöhnliches Projekt begonnen. Vier Romane, benannt nach den Jahreszeiten, wollte sie schreiben. Für die Niederschrift jedes einzelnen Buches gab sie sich nur wenige Monate Zeit. Der Effekt dieses Verfahrens ist eine Art Mitschrift der Gegenwart, allerdings nicht in Form eines literarischen Protokolls, sondern vielmehr als eine Erzählung von Lebensläufen, in denen sich das Zeitgeschehen auf unterschiedliche Weise spiegelt.

Die unruhige britische Gegenwart dient Smith, die in Cambridge lebt, dabei ebenso als Antriebsmotor wie die Literaturgeschichte. Nun ist mit „Sommer“ der Abschluss der Jahreszeiten-Tetralogie erschienen. Es geht um eine Jugendliche, die an der Borniertheit der Erwachsenenwelt verzweifelt. Um deren sinistren, vom Neoliberalismus angefressenen Bruder. Und um den 104 Jahre alten Daniel Gluck, bereits einer der Protagonisten von „Herbst“, der sich an seine Zeit im Hutchinson Camp auf der Isle of Man während des Zweiten Weltkriegs erinnert.

Der Sommer wirkt in Smiths Roman weniger wie eine Jahreszeit als ein heller, flüchtiger Sehnsuchtsort, in dem Freundlichkeit und Menschlichkeit herrschen. Ein Gedanke, der nicht mit einer romantischen Utopie verwechselt werden sollte. In Ali Smiths Kosmos gibt es immer beides zugleich, das Niederträchtige und das Gute, das Schöne und das Hässliche. Ali Smiths außergewöhnliches Projekt ist sehr nah an unserer nervösen Epoche.

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SWR