70 Jahre Grundgesetz

Kommentar: Integration als Teil der Grundrechte

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Von Filiz Kükrekol

Auch nach 70 Jahren hat sich das Grundgesetz nur marginal erneuert. Dabei sieht Deutschland heute anders aus als noch vor 70 Jahren, sogar anders als noch vor fünf Jahren. Mit Blick auf die vielfältige Herkunft der Menschen in Deutschland wünscht sich SWR-Redakteurin Filiz Kükrekol in ihrem Kommentar deshalb Änderungen in den Grundrechtsartikeln.

Nach Kriegsende war Deutschland homogen

Filiz Kükrekol
Filiz Kükrekol

Die Väter und vier Mütter des Grundgesetzes haben die Artikel in einer Zeit geschrieben, in der Deutschland verhältnismäßig homogen war, gerade mal vier Jahre nach Kriegsende.

Und sie schrieben unser Grundgesetz in einer Zeit, in der viele noch zu gut wussten, was es hieß, wegen seiner Meinung, man nannte es Gesinnung, seines Glaubens oder seiner sexuellen Orientierung verfolgt zu werden.

„Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“

Auch heute gibt es Menschen, die genau aus diesen Gründen ihr Land verlassen und hier bei uns in Europa, in Deutschland Zuflucht suchen.

Und es gibt die Millionen Menschen, die Deutschland schon in den 60er Jahren eingeladen hat. Ja ich bemühe Max Frisch: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“.

Das Gefühl, nie ganz dazu gehört zu haben

Diese Menschen haben Kinder bekommen und Enkelkinder, sie wurden eingebürgert und werden hier zu Grabe getragen. Doch diese neuen Deutschen hatten oft bis zuletzt das Gefühl, nie so ganz dazu gehört zu haben, nie so ganz gleich zu sein.

Hier kann unser Grundgesetz Abhilfe schaffen und den Tatsachen ins Auge blicken. Jeder Fünfte in Deutschland hat eine Einwanderungsgeschichte. Das anzuerkennen müsste eigentlich zu unserem Selbstverständnis gehören.

In vielen Klassenzimmern in Mannheim oder Ludwigshafen ist Deutsch längst nicht mehr die überwiegende Muttersprache. Auch diese Kinder sind unsere Zukunft.

Deutschland: Ein Einwanderungsland

Ich wünsche mir ein Bekenntnis zu diesem vielfältigen, reichen Deutschland. Man könnte das in den Staatszielen festschreiben. Genauso wie es 1994 beim Umweltschutz in Artikel 20 b geschehen ist.

Ein solches Staatsziel, Artikel 20 c etwa, könnte lauten: ‚Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Einwanderungsland. Alle Menschen nehmen in gleicher Weise an unserem Zusammenleben teil. Dieses Zusammenleben auf allen Ebenen durch Integration zu fördern ist das Ziel aller Organisationen im Land.‘

Normal, dass Linda Zervakis die Tagesschau präsentiert

Damit würden wir uns zu allen Menschen bekennen, die Deutschland ihre Heimat nennen, am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Nachbarschaft, egal woher sie stammen. Ein solch positives Bekenntnis zur Vielfalt könnte sich zu einer normativen Kraft für eine Einwanderungsgesellschaft im 21. Jahrhundert entwickeln.

Schon längst ist eine Generation herangewachsen, der es egal ist, woher Antonios Eltern kommen, und für die es normal ist, dass die Tagesschau von Linda Zervakis präsentiert wird. Das ist mein Deutschland.

„Rasse“? Ein verzichtbarer Begriff im Grundgesetz

Und noch einen Änderungswunsch habe ich: Natürlich ist die Würde des Menschen unantastbar, und natürlich darf ich meine Meinung sagen, auch hier im Radio. Ich unterliege keiner Zensur. Natürlich sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich.

Frauen und auch Männer darf in Deutschland per Gesetz niemand wegen ihres Geschlechtes, ihrer Abstammung, ihrer Herkunft diskriminieren. Doch das Wort „Rasse“ erschrickt mich in meinem Grundgesetz.

Niemanden wegen Abstammung, Sprache oder Herkunft benachteiligen

Mir fehlt auch, dass wir uns dazu bekennen, dass niemand wegen seiner sexuellen Orientierung benachteiligt wird. Artikel 3 ist zwar jetzt schon mein Lieblingsartikel. Noch lieber hätte ich ihn, wenn es im 70ten Jahr nach der ersten Niederschrift unserer Verfassung darin hieße:

‚Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner sexuellen Orientierung, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner ursprünglichen Heimat und Herkunft, wegen seines Glaubens oder seiner religiösen und politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.‘

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SWR